Das grosse Glück im eiskalten Wasser

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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In Deutschland kam sie auf die Welt. Im Fernen Osten lernte sie ihren Mann kennen. Und in Küsnacht schliesst sich ein Kreis, der vor 500 Jahren auf dem Schlachtfeld von Kappel am Albis begann: Die Geschichte der IT-Unternehmerin Bettina Dührkoop hat viele Facetten.

Am Ende des langen Gesprächs taucht unverhofft der Anfang dieser Geschichte auf – ein Name ist ihr eingefallen: «Heinrich Abegg», sagt Bettina Dührkoop, während sie den Kontrabass in Position bringt und sich neben dem Flügel vor der Bücherwand in Szene setzt. «Mit ihm schliesst sich ein Kreis, der fünf Jahrhunderte umfasst.» Bis zum Urahn Abegg lasse sich die mütterliche Ahnengalerie zurückverfolgen, womit auch feststehe, «dass meine ältesten Wurzeln hier am Zürichsee liegen». Besagter Abegg sei nämlich Pächter im Oberen Mönchhof in Kilchberg gewesen, «bevor er in der Schlacht von Kappel an der Seite des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli den Tod fand».

Familie, dann erst der Sport

Bettina Dührkoop, 53, kräftige Statur, wacher Blick, das lange, salzgepfefferte Haar zum buschigen Pferdeschwanz gebunden, ist IT-Unternehmerin, Extremsportlerin, Musikerin, Ehefrau und dreifache Mutter – «Schon falsch!», wendet sie ein: «Auch wenns nicht immer so aussieht: Die Familie kommt stets zuerst!»

Gleich danach kommt der Sport – aktiv auf dem Vita-Parcours, im Zweier- oder Vierer-Ruderboot, passiv durchaus auch mal vor dem Fernsehgerät: Eben noch hat sie mit den Kindern die EM-Erfolge von Simon Ehammer und Mujinga Kambundji bejubelt.

Die Szene mit dem Kontrabass, spontan inszeniert für die Handy-Kamera, ist gestellt – und doch nicht einfach nur eine Pose. Das Bild hat Symbolkraft: Hingebungsvoll greift Bettina Dührkoop in die Saiten – und macht zweierlei deutlich. Erstens: Diese Frau hat Klasse – sie passt ins klassische Kammerorchester Männedorf-Küsnacht. Und zweitens: Dieses Instrument, raumfüllend und tonangebend, passt zu dieser Künstlerin, die zwar bestreitet, eine zu sein – «In unserem Ensemble spiele ich nicht die erste Geige!» –, zugleich aber einräumt, dass sie es durchaus geniesst, «als Orchester-Mitglied im grossen Harmoniekörper eingebettet» zu sein.

Sie braucht kein Büro

Andererseits versteht sich die IT-Unternehmerin auch als «Einzelkämpferin», die jederzeit von jedem Mitarbeiter und nahezu jedem Ort des Planeten aus erreichbar sein will. «Wozu braucht man heute noch ein Bürogebäude?», fragt sie und klappt das Notebook auf dem Balkon auf, an dessen Geländer reife Weintrauben bis in den ersten Stock ranken. «Mein Büro – das sind der Computer, das Handy und das World Wide Web; ich kann mich einrichten, wo es mir gerade gefällt – heute hier, morgen vielleicht auf der Parkbank unten am See.» Zudem habe die flexible Arbeitsweise den Vorteil, «dass ich bei der Suche nach Mitarbeitern auf die grössten Talente weltweit zurückgreifen kann».

In Deutschlands Norden wächst Bettina als Tochter des Historikers Michael Vollert auf, der nach dem Studium eine Offizierslaufbahn bei der Bundeswehr eingeschlagen hat – «mit der erklärten Ambition», erinnert sich die Tochter, «sich mit aller Kraft dafür einzusetzen, dass sich eine Katastrophe wie der Zweite Weltkrieg nie mehr wiederholen kann».

Der Vater wollte verstehen, wie dessen Vater Richard Vollert den Weltkrieg auf Hoher See erlebte, wie er die Entmachtung als Kapitän der Handelsmarine verkraftete und den Befehl, nunmehr als Unteroffizier in Hitlers Kriegsmarine zu dienen, befolgte. Und da die Mutter eine Buchhandlung führte und die Tochter sich schon früh in der Welt der Literatur wohlgefühlt hatte, «war es nur folgerichtig, dass ich meinen Vater überredete, ein Buch über seinen Vater zu recherchieren».

Trifft in Hongkong auf ihre Liebe

Sie studiert Betriebswirtschaft und schlägt beim Bertelsmann-Konzern in der nordrheinwestfälischen Industriestadt Gütersloh eine Karriere im Verlagswesen ein. Eine aberwitzige Laune des Zufalls lässt sie den deutschen Landsmann Tim Dührkoop kennen lernen – ausgerechnet während einer Asienreise in den Strassen von Hongkong, «das damals noch zum britischen Commonwealth gehörte». Die zarten Bande, im Fernen Osten geknüpft, haben Bestand. Doch zurück in Europa sind 800 Kilometer Distanz zwischen Gütersloh und St. Gallen, wo Tim Wirtschaft studiert, «einer Beziehung, die gerade erst begonnen hat, in Liebe umzuschlagen, gar nicht zuträglich».

Und so verlegt Bettina Dührkoop ihren Lebensmittelpunkt in die Schweiz, wo bald schon die Hochzeitsglocken läuten. Das Paar zieht erst mal nach Zürich – mitten in die Drogenszene, die vor zwanzig Jahren noch sehr virulent war: «Wir wohnten neben dem Sexshop und gegenüber vom Hanfladen, kannten jeden Dealer beim Vornamen. Und ich war mit unserem ersten Kind schwanger! Kurz: Lange konnte das nicht gut gehen!»

Bald den Schweizer Pass

In Küsnacht findet die Familie eine neue Heimat, die Kinder Carlotta, Nino und Isabella wachsen auf, Tim und Bettina beantragen die Schweizer Staatsbürgerschaft. «Es war uns ein Anliegen, in der Gemeinde Verantwortung zu übernehmen», sagt Bettina, die im Elternrat und im Vorstand der Musikschule Einsitz nimmt und sich für die Kinderkulturwoche der reformierten Kirche engagiert, während ihr Mann im Gemeinderat die Rechnungsprüfungskommission präsidiert.

Nur das mit dem Schwiizerdütsch will noch nicht so recht klappen. «I chönnt jo scho, wänn i wott», lacht die Mutter. «Aber die Kinder finden es halt einfach nur peinlich.»

Bettina steigt bei Bluewin ein, gründet und leitet danach zehn Jahre lang eine Werbeagentur und erkennt, dass «es mir je länger je weniger Spass macht, der Menschheit Coca-Cola und andere nutzlose Dinge anzudrehen». Sie sucht eine relevante Aufgabe, «etwas von allgemeinem Nutzen». Und findet in ihrer Freundin Bettina Hein eine Partnerin mit demselben Anliegen und der richtigen Idee: Die Idee heisst «Juli». «Das hat wenig mit dem Sommermonat und viel mit Gesundheit zu tun», erklärt Bettina Dührkoop, die als CMO/COO die Organisation im Innern zusammenhält, während Bettina Hein die Firma als CEO nach aussen repräsentiert. «Wir haben vier eingängige Buchstaben zum Label gemacht.»

«Juli» ist eine App, die Menschen mit chronischen Krankheiten – von der bipolaren Störung über Diabetes bis hin zu Asthma – konstant überwacht, die gesundheitsrelevanten Daten registriert, Muster erkennt und dem Patienten hilft, seinen Zustand zu verbessern. «Die App, von den Krankenkassen gefördert, kann kostenlos heruntergeladen werden. Vorerst sind wir ausschliesslich auf dem US-amerikanischen Markt aktiv, wo nach gut zwei Jahren bereits 20 000 Patienten das Angebot nutzen.»

Zur Krönung den Mutpreis

Bettina Dührkoop hat in vielerlei Hinsicht Mut bewiesen. Der Mut, mitten in der ­Pandemie ein Unternehmen zu grün- den, ist mit dem «Prix Courage Award» belohnt worden, dem vom Frauennetzwerk «bwoman» sowie der Plattform «takethecourage.com» ausgelobten Mut-Preis.

Eine gehörige Portion Mut erfordert auch ein Sport, den sie – neben dem Rudern und Joggen – am liebsten betreibt: Winterschwimmen. Frühmorgens, wenn draussen Stein und Bein gefriert, steigt Bettina Dührkoop in den Zürichsee und legt minutenlang kräftige Züge ins Wasser. «Natürlich musst du dich überwinden», räumt Dührkoop ein, die 2018 an der Winterschwimm-WM im estnischen Tallinn die Schweiz erfolgreich vertreten hat. «Doch dann nimmst du dieses perlende Kribbeln wahr – und wenn du aus dem Wasser steigst, bist du der King of the World. Es ist pures Glück!»

In den letzten Monaten, seit die Soldaten des russischen Präsidenten in die ­Ukraine eingefallen sind, wird auch der Umgang mit bewährten Fachkräften zur Mutprobe – nicht nur für Bettina, auch für die Gruppe russischer Programmierer, welche die «juli»-App entwickelt haben. «Sie haben das Land verlassen und sich vorerst in Montenegro etabliert. Sie wissen genau, was im Nachbarland passiert.»

Wenn Bettina Dührkoop in einer freien Stunde zum Sonnenhof fährt und für die ukrainischen Flüchtlinge im ausgemusterten Altersheim Bettgestelle zusammenschraubt, könnte ihr «fast schwindlig werden – so krass ist der emotionale Spagat in dieser merkwürdigen Zeit».

Wenn sie den Vater in Deutschland besucht, den ehemaligen Bundeswehr-Offizier, der zum Militär ging, weil er künftige Kriege verhindern wollte, «drehen sich unsere Gespräche immer wieder um die akute Bedrohung für den Weltfrieden. Seine Sorge ist so gross wie das lähmende Gefühl der Hilflosigkeit.» 

Und ab und zu finden sich die Dühr­koops und die Vollerts im Oberen Mönchhof zum Familientreffen ein; dann wird auf das Wohl des Urahnen Heinrich Abegg angestossen. Und der Krieg ist kaum noch ein Thema. Ist ja auch schon 500 Jahre her.

Heute letzter Teil: Mit Bettina Dührkoop beschliessen wir unsere Porträtserie. Wir haben geredet mit Mariska Wieland, Kreisladen (11. 8.), Professorin Petra Schweinhardt (28. 7.) und Webdesigner Flavio Meroni (14. 7.)