Der Kindergarten des Friedens

Erstellt von Daniel J. Schüz |
Zurück

Mit dem zweisprachigen Kindergarten «Double Decker» hat Nava Bader eine der weltweit besten Vorschulen ins Leben gerufen. Ihr eigenes Leben verdankt die Küsnachterin dem Trauma eines israelischen Kriegsveteranen.

Wenn es in Küsnacht einen Ort gibt, der die grosse weite Welt multikulturell fokussiert, dann ist es der Double Decker. Wer den Mythos dieses Kinderparadieses ergründen will, muss sich mit der Geschichte der Gründerin auseinandersetzen. Die Geschichte der Nava Bader beginnt im Februar des Jahres 1973 in Boston. Shai, der Sohn eines israelischen Offiziers, war von Tel Aviv in die USA geflogen, um den Erinnerungen zu entkommen, die ihn seit Monaten heimsuchten.

In der Hauptstadt des US-Bundesstaats Massachusetts lernte er Andrea Rusch kennen, eine junge amerikanische Lehrerin mit irisch-schottischen Wurzeln. Hals über Kopf verliebten sich die beiden ineinander, und bald schon läuteten die Hochzeitsglocken. Das junge Glück schien perfekt, doch dieser Schein war trügerisch. Der Schatten, der schwer und düster auf Shais Gemüt lastete, wollte nicht weichen. «Was bedrückt dich?» Andrea, deren Bruder als Kampfpilot in Vietnam den feindlichen Radar unterflogen hatte, ahnte die Antwort: Shai war wenige Monate zuvor aus dem Jom-Kippur-Krieg zurückgekehrt. «Ich weiss nicht, wie viele es waren», bestätigte Shai ihre Vermutung. «Ich weiss nur, dass es viele waren.» Er hatte ihre Namen nicht gekannt, ihre Gesichter nicht gesehen. Dennoch liessen sie ihn nicht mehr in Ruhe: Tagsüber beherrschten sie die Gedanken, nachts verfolgten sie ihn bis in seine Träume. «Ich kann die Menschen, die ich getötet habe, nicht mehr zum Leben erwecken», fuhr der Soldat fort. «Aber ich will dazu beitragen, dass das Leben weitergeht. Andrea, lass uns ein Kind zeugen!»

Neun Monate später brachte Andrea ihr erstes Kind zur Welt: Nava. Die Ehe mit Shai war von kurzer Dauer. An seine Stelle trat der Schweizer Media­tionscoach Hans Bader, der aus Basel angereist war, um in den USA an demselben Seminar teilzunehmen, das auch Andrea gebucht hatte. Es war einmal mehr die grosse Liebe: Andrea folgte ihrem neuen Lebenspartner an den Zürichsee nach Stäfa, wo Nava aufwuchs und zehn Jahre später eine Schwester bekam. Für Nava, die am Sonntag in einer Woche ihren 47. Geburtstag feiert und ihr Leben dem Trauma eines israelischen Kriegsveteranen verdankt, ist es nur folgerichtig, «dass ich schon als Kind Pädagogin werden wollte – wie meine Mutter. Oder Hebamme».

Im übertragenen Sinn hat Nava Bader beides erreicht und übertroffen: Mit der Gründung einer neuartigen Vorschuleinrichtung hat sie sich vor 21 Jahren – damals noch in Kilchberg – als Pionierin erwiesen und eine Institution ins Leben gerufen, die bis heute ihresgleichen sucht. Es gibt deutsche Vokabeln, die sich nicht ins Englische übersetzen lassen: Den Kindergarten etwa findet man in der angelsächsischen Welt nur als: Kindergarten. Der englische Double­decker hingegen ist ein vieldeutiger Begriff, der die Grenzen der kindlichen Fantasie auslotet: Man kann ihn sich als Flugzeug mit vier Tragflächen vorstellen. Als einen dieser knallroten zweigeschossigen Busse der Londoner Verkehrsbetriebe. Als zwei gebratene, zwischen Brotscheiben eingeklemmte Hackfleischfladen aus dem Fast-Food-Laden. Oder eben als Garten für Kinder, die einander auch dann verstehen, wenn sie nicht dieselbe Sprache sprechen. Hinter der unscheinbaren Fassade des Küsnachter Double Decker verbirgt sich das aussergewöhnliche pädagogische Konzept der konsequenten Zweisprachigkeit: Ein gutes Dutzend Pädagogen – unter ihnen auch eine externe Neurologin sowie Navas Mutter Andrea, die den Double Decker mitbegründet hat – betreut spielend, bastelnd und geschichtenerzählend rund 50 Kids im Alter von 18 Monaten bis zur Schulreife. Dabei wird hochdeutsch gesprochen – but also english because we all live in an english speaking world as well. «Schon nach wenigen Wochen der Eingewöhnung sprudeln die Worte nur so aus den Kindermündern heraus», weiss Nava Bader. «Und zwar ziemlich fehlerfrei in beiden Sprachen!» Derlei Erfolgserlebnisse beflügeln die Schulleiterin: «Die Kinder sollen vor allem lernen, gegenseitige Toleranz zu üben und rasch selbstständig zu werden. Das macht frei und glücklich.»

Der Küsnachter Kindergarten wird an den renommiertesten britischen Hochschulen mehr als nur zur Kenntnis ­genommen: In einer koordinierten Untersuchung haben die Universitäten von Oxford und Cambridge pädagogische Institutionen auf der ganzen Welt kritisch unter die Lupe genommen und das Resultat in der Studie «Global Education and Skills – an Oxbridge Guide» veröffentlicht. Fazit: Der Double Decker, auf der gemeindeeigenen Homepage bis vor zwei Tagen noch immer als Spielgruppe registriert, gehört seit zehn Jahren zu den 150 besten und innovativsten Schulen der Welt.

Sie wolle ja nicht klagen, fährt Nava Bader fort, aber gesagt müsse es halt schon auch sein: «Alle Kinder, vereint unter einem Dach und nicht auf zwei Häuser verteilt und durch eine Strasse getrennt – das ist der Traum meines ­Lebens!» «Wenn wir Brücken schlagen zwischen Sprachen, Kulturen und Religionen, gibt es keinen Grund, einander die Köpfe einzuschlagen.» Schon im nächsten Moment hat ihr Lachen wieder diese ansteckende Fröhlichkeit zurückgewonnen: Nava Bader sitzt an dem langen Holztisch im Esszimmer. Neben ihr krault Flavio Meroni den Kopf des rabenschwarzen Mischlingsrüden Nuar. «Ich bin Navas Lebensgefährte», stellt sich der 50 Jahre alte Art and Creative Director in der Werbebranche vor und ergänzt: «Seit einem Vierteljahrhundert bin ich ihr unverheiratet anvertraut und ausserdem der Vater unserer beiden Töchter Finn und Ruby sowie unseres Sohnes Ronan!» Der sonnengebräunte Teint und die schwarz gelockte, grau melierte, im Nacken modische verknüpfte Haarpracht kontrastieren seltsam zu der eher unauffälligen, in Ehren ergrauten Dame an seiner Seite. Der erste Eindruck täusche, kokettiert Flavio grinsend. «Wenn man genau hinschaut, ist klar, dass Nava der Paradiesvogel ist – und ich bin der kleine Bünzlischwiizer vom anderen Seeufer!»

Damals, als die Welt im Fernen und im Nahen Osten brannte, als Napalm und Agent Orange vietnamesische Wälder und Dörfer verwüsteten, als Bomben und Raketen in israelischen, palästinensischen und ägyptischen Städten detonierten, hat Navas Geschichte begonnen. Und ihr Lebenswerk ist auch ein Friedensprojekt. «Wenn wir uns bemühen, schon im Kindesalter Brücken zu schlagen zwischen Sprachen, Kulturen und Religionen, dann verstehen wir einander – und es gibt keinen Grund, sich zu bekämpfen.» Heute, ein halbes Jahrhundert später, versinkt der Mittlere Osten in Gewalt und Angst. Nava Bader richtet den Blick besorgt nach Afghanistan. «Dieses Mal sind vor allem Frauen und Kinder die Leidtragenden», sagt sie. Und hofft, dass «unser Land die Grenzen für geflüchtete Menschen aus dem Hindukusch öffnet. Und wenn sich auch die Gemeinde Küsnacht grosszügig zeigt, werden wir bestimmt im Double Decker einen Arbeitsplatz für Frauen und einen Krippen- oder Spielplatz für Kinder finden.» Ist aus der Pazifistin jetzt eine Feministin geworden, die sich jetzt für geflüchtete Frauen aus Afghanistan einsetzt? «Ach was», wehrt sie ab. «Es gibt noch viele andere Länder, in denen Not herrscht – und viele Männer, die auch Hilfe brauchen. In die grossen Schubladen mit den Schwarz-Weiss-Etiketten passe ich nicht rein. Ich kümmere mich lieber um die kleinen Menschen.»