Die Professorin kennt den Schmerz

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Mit chiropraktischer Medizin will Petra Schweinhardt Nacken- und Rückenschmerzen lindern. Ausserdem ist die Küsnachter Professorin eine leidenschaftliche Sportlerin – auf dem Velo, im See, im Hochgebirge und auf dem Jogging-Trail.

Lange hat er nicht gefackelt: «Die Petra», grinste Flavio Meroni, der vor zwei Wochen an dieser Stelle den Auftakt zur Sommer-Stafette machte, «sie soll meine Nachfolgerin werden – und die kann das auch. Ich kenne sie recht gut!» Kunststück: Seit fünf Jahren leben die Familien Meroni und Schweinhardt an der Oberen Heslibachstrasse sozusagen Tür an Tür.

Warum aber hat sich der Web-Designer ausgerechnet für seine Nachbarin entschieden?

«Das wüsste ich auch gerne», lacht die 49-jährige Ärztin. Petra Schweinhardt, barfuss, hellblaue Jeansshorts, pinkes  Träger­shirt, macht es sich in ihrem malerisch verwilderten Garten auf einem Liegestuhl bequem, vergnügt blinzelt sie in die heisse Julisonne und wirkt ganz und gar nicht professoral. Dabei übernimmt sie in vier Wochen den Lehrstuhl für Chiropraktische Medizin – vereinfacht erklärt: die manuelle Behandlung von Schmerzen am Bewegungsapparat – an der Uni Zürich und leitet die entsprechende Klinik der Universitätsklinik Balgrist.

«Vielleicht», mutmasst sie, «will der Flavio einfach endlich mal wissen, was die Nachbarin den ganzen Tag über so treibt.»

Im Fokus ihres täglichen Treibens steht ein ebenso unangenehmes wie alltägliches Phänomen. Wir alle kennen und fürchten es wie der Teufel das Weihwasser: den Schmerz.

Schmerz, der brennt und klopft

Pulsierend tobt er im Kopf. Er quält Rücken und Nacken, brennt, klopft und sticht innen wie aussen, akut fährt er ein und nimmt chronisch kein Ende. Von Rezeptoren im Gewebe rast er über geheimnisvolle Nervenbahnen durch den Körper ins Gehirn. Den physischen Leib drang­saliert er ebenso wie die arme Seele. Er steht am Anfang praktisch jeder Arzt-­Patient-Beziehung. Dem Schmerz in seiner faszinierenden Vielfalt widmet Petra Schweinhardt ihre Schaffenskraft, sie hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, dieses Phänomen so gründlich zu erforschen, dass sie es verstehen – und letztlich lindern – kann. Aus der Welt schaffen allerdings will und kann sie den Schmerz nicht; denn im Grunde ist er ein durchaus sinnvolles, oft lebensrettendes Warnsi­gnal: «Er sagt uns, dass wir die Hand von der Herdplatte nehmen müssen, bevor wir eine Verbrennung erleiden», sagt Petra Schweinhardt.

Sie selbst habe allerdings keine «aussergewöhnlich traumatischen Schmerzerfahrungen gemacht», sagt sie. «Das Übliche halt.» Neben einem Beinbruch im Teenageralter sei ihre heftigste eigene Erfahrung jener Schmerz gewesen, den jede Mutter kennt: «Das waren die Wehen bei der Geburt unserer Kinder», erinnert sie sich und schmunzelt im Schatten des Apfelbaums: «Diese Erfahrung verdanken wir Frauen wohl unserer Urmutter Eva.»

Weil Eva im Paradies das einzige Verbot missachtet und ihren Adam mit einem Apfel vom Baum der Erkenntnis verführt hat, soll Gott sie – und mit ihr all ihre weiblichen Nachkommen – dazu verdammt haben, fortan «unter Mühen Kinder zu gebären». Die Wissenschafterin Schweinhardt verweist derlei Gottesstrafen ebenso ins Reich der Mythen wie die hartnäckig verbreitete Unterstellung, die Menschheit wäre längst ausgestorben, wenn die wehleidigen Männer gebären müssten: «Unsere Forschungen belegen das Gegenteil: Frauen empfinden mehr Schmerzen als Männer.»

Zielstrebige Akademikerin

Sie selbst kommt im Sommer 1973 in Grosssachsen zur Welt, einem baden-württembergischen Dorf nahe der Universitätsstadt Heidelberg, wo sie zielstrebig ihre akademische Laufbahn in Angriff nimmt. «Zunächst konnte ich mich nicht zwischen Rechtswissenschaften und Medizin entscheiden; mein Gerechtigkeitsempfinden und die strukturierte Vorgehensweise liessen mich zum Jurastudium tendieren, doch dann gaben mein Inte­resse am menschlichen Körper und vor allem die Faszination für das Gehirn den Ausschlag.» Vor allem legt sie den Fokus auf die Frage, wie Schmerz gelindert werden kann, insbesondere wenn man körperliche und seelische Aspekte berücksichtigt. Bald nach Abschluss des Studiums nimmt sie die Möglichkeit wahr, am renommierten Karolinska-Institut in Stockholm – es verleiht auch den Medizin-Nobelpreis – neurowissenschaftliche Forschung zu betreiben. In Oxford promoviert sie, in Montreal setzt sie als Assistenzprofessorin die Schmerzforschung fort und wechselt schliesslich nach Zürich, wo sie an der Universitätsklinik Balgrist die Forschungsgruppe der Abteilung für Chiropraktische Medizin auf- und ­ausbaut. Als der entsprechende Lehrstuhl neu besetzt werden soll, setzt die Berufungskommission Petra Schweinhardt auf Platz eins der Kandidatenliste.

Am ersten September wird sie, noch nicht 50-jährig, das Amt als Ausserordentliche Professorin für Chiropraktische ­Medizin antreten. «Damit», freut sie sich, «habe ich die Möglichkeit, die Bereiche Forschung, Lehre und Klinik optimal zu koordinieren. Und das macht auch noch aus einem anderen Grund Freude: Nirgendwo auf der Welt habe ich so zuverlässige Mitarbeitende erlebt wie hier in der Schweiz.» Das macht den Nachteil schon fast wieder wett, dass die europaskeptische Schweiz immer wieder um den Anschluss an internationale Forschungsgremien kämpfen muss. Immerhin, relativiert Petra Schweinhardt, setze sich der Schweizerische Nationalfonds erfolgreich dafür ein, dass gestrichene Forschungsgelder ersetzt werden.

In Küsnacht heimisch geworden

Es ist offenkundig, dass Petra Schweinhardt mit ihrem Mann Torsten und den Kindern Oskar und Luzie in Küsnacht Wurzeln geschlagen hat. Der basisdemokratischen Tradition dieses Landes kann sie «einiges abgewinnen», und sie kann sich auch gut vorstellen, dass die Familie die Einbürgerung beantragen wird – auch wenn das noch zwei, drei Jahre dauert. Immerhin plaudern Oskar und Luzie schon perfekt Züridütsch. Vater Torsten, der als Wirtschaftsinformatiker arbeitet, stammt ursprünglich aus Rottweil – eine Kleinstadt, die vor 500 Jahren eine eidgenössische Exklave in Süddeutschland war.

Das Gespräch im Garten unterm Ap­felbaum dreht sich um individuelle Schmerzwahrnehmungen, um panische «Katastrophisierungen» und kindliche Ängste, welche das schmerzhafte Empfinden verschärfen, andererseits um betäubende Stresshormone, die etwa den Langstreckenläufer mit dem «Runner’s High» beglücken.

Jetzt leuchten ihre Augen: «Wir haben genug vom Schmerz», lacht sie. «Es gibt schliesslich noch anderes im Leben!»

«Was denn?»

«Familie. Natur. Und waren wir nicht eben beim Sport?»

Sport, das verrät auch ihre athletische Figur, ist Petras zweite grosse Leidenschaft. Den betreibt sie gerne mit der ganzen Familie und möglichst immer draussen in der Natur. «Da zum Beispiel», sagt sie und wischt auf dem Handybildschirm durchs Fotoarchiv. «Da waren wir alle im Val Perlana beim Canyoning.»

Glücksgefühle – ganz ohne Endorphin – empfindet sie, wenn sie abends beim Schwimmen den Blick über den See wandern lässt, hinüber zum Alpenkranz, und sich am Horizont einen Berg aussucht. «Dort möchte ich hin», denkt sie vielleicht. Mit Eispickel und Kletterseil – und mit Torsten! Sowie sie den Vorsatz wahr macht und mit ihrem Mann in die Wand einsteigt, ist es wieder da, dieses Glücksgefühl.

Der alltägliche Sport gehört dem Velo: Jeden Morgen besteigt die angehende Professorin ihren grasgrünen Drahtesel und strampelt Richtung Balgrist, knapp sechs Kilometer und fünfzig Höhenmeter in gut zwanzig Minuten.

Und am frühen Samstagmorgen, wenn Petra Schweinhardt ihre Laufschuhe schnürt, kann es geschehen, dass sie am Gartentor dem Nachbarn begegnet. «Guten Morgen, Flavio», sagt sie – und joggt am Tobelbach entlang hinauf bis zum Küsnachterberg und wieder zurück.

«Ciao Petra», grüsst Flavio zurück, fährt mit dem Velo zum Bootshaus, legt sein Skiff ins Wasser und rudert mit kräftigen Schlägen über den spiegelglatten See – von Erlenbach nach Meilen und wieder zurück.

Als Nächstes: Mariska Wieland

Dies ist die zweite Folge unserer Sommer-Stafette. Dabei bestimmt jede portraitierte Person, wer ihr Nachfolger sein soll. Petra Schweinhardt hat sich für die gebürtige Holländerin Mariska Wieland entschieden, die in Küsnacht den verpackungsfreien «Kreisladen» betreibt – für nachhaltigen Umweltschutz.