«Ich finde die Ideen im Alltag»

Erstellt von Rahel Köppel |
Zurück

Mit ihren Kolumnen über den Manager «Graber» unterhält die 54-jährige Nicole Rütti NZZ-Leser seit vielen Jahren.Im Interview spricht sie über die Probleme der heutigen Arbeitswelt, blickt zurück und schaut in die Zukunft.

Nicole Rütti, Ihre Figur in den Kolumnen heisst Graber. Kurz: Wer ist Graber?

Graber ist ein Durchschnittsmanager, gegen die 50, der seinen Job möglichst gut erledigen will und dabei auf einige Hürden stösst, darunter bürokratische Organisationsabläufe, schwierige Kollegen und Vorgesetzte und neue Managementphilosophien. Diese Dinge überfordern ihn manchmal etwas. 

Warum haben Sie nicht eine Frauenfigur «erfunden»? Können Sie sich denn mit ihm identifizieren? 

Als ich angefangen habe, die Kolumnen zu schreiben, war die Wirtschaft noch sehr männerdominiert, darum hat das irgendwie einfach besser gepasst. Heute hätte ich das vielleicht auch anders gemacht. Es ist aber auch spannend, Dinge wie Genderfragen oder Familienangelegenheiten aus der Perspektive des anderen Geschlechts anzuschauen und sich in deren Haut zu versetzen. Und ja, ich kann mich trotzdem in einigen Punkten mit Graber identifizieren und nehme den Stoff für diese Geschichten aus dem Alltag.

Wie sind Sie auf Graber gekommen?

Meine Vorgesetzten damals fanden, wir bräuchten etwas mehr Arbeitsmarktgeschichten, die Führungskräfte und HR-Spezialisten ansprechen. Meine Kollegin und ich fanden das etwas trocken. Also haben wir uns entschieden, kleine Geschichten dazu zu schreiben. Mein Vorgesetzter war entsetzt, als ich ihm die erste zeigte. Das sei überhaupt nicht NZZ-like, meinte er. Trotzdem durften wir diese erste Kolumne dann veröffentlichen, und das Feedback war durchwegs positiv, von den Lesern, aber auch von Arbeitskolleginnen und -kollegen. Also habe ich weitergemacht, Graber bekam seinen Charakter und wurde zu dieser Persönlichkeit, die er heute ist. 

In Ihren Kolumnen thematisieren sie oft den Aspekt «mentale Gesundheit auf der Arbeit beziehungsweise in der Firma». Was sind Ihre Erfahrungen mit Stress und Überarbeitung?

Ich finde es ein sehr wichtiges Thema und es sollte auch darüber gesprochen werden. Laut Erhebungen leidet jede dritte erwerbstätige Person unter mentaler Erschöpfung. Ich habe das in meinem Umfeld definitiv auch schon mitbekommen, zum Beispiel Bekannte, die Burn-outs erlitten. Ausserdem denke ich, dass gerade der Journalismus ein Berufsbereich ist, in dem Arbeit und Freizeit schwierig zu trennen ist. Oft recherchiert man noch Dinge nach oder schreibt an einem Text weiter, obwohl man bereits Feierabend hat. Da haben mir meine Kinder sehr geholfen. Wenn ich zu Hause war, hatte ich oft gar keine Zeit mehr, an die Arbeit zu denken, da ich mich um sie kümmern musste. 

Woher nehmen Sie den Stoff für Ihre Kolumnen?

Ich war früher eine Werkstudentin und konnte dadurch sehr viele verschiedene Berufe kennen lernen und regelmässi-gen Kontakt mit verschiedenen Firmen halten. Dadurch sammelte ich viele Er­fahrungen und lernte, wie Firmen funktionieren. Heute führe ich als Wirtschaftsjournalistin ein Gespräch oder höre Firmenchefs zu, wie sie über ihre Arbeit sprechen. Während dieser Gespräche fängt es in meinem Kopf an zu drehen und ich setze Graber in diese Geschichten ein. So entstehen neue Ideen für die Kolumnen.

Sie kennen sich aus auf dem Markt – wer ist Ihrer Meinung nach der beste Arbeitgeber? Und was sind die Rezepte?

Ich finde, das ist sehr subjektiv. Es gibt da zwar diese Rankings, aber ich denke, es ist sehr persönlichkeitsabhängig, wen man als guten Arbeitgeber definiert. 

Sie schreiben in einem Kommentar, dass «verlässliche und klare Führung, die auf Eigenverantwortung und Vertrauen basiert», in einem Betrieb wichtig ist. Deutschen Sie dies bitte noch etwas aus. 

Gute Chefs respektieren ihre Mitarbeiter, können sie begeistern und motivieren. Als ein gutes Beispiel für einen solchen Chef fällt mir Andreas Wieland, Geschäftsführer bei Hamilton Bonaduz, ein. Er sagte einst: «Ein hungriges Wolfsrudel muss man nicht motivieren, die Beute zu fangen.» Die erledigen ihren Job auch so, wenn Sie den Wölfen einen schönen Hirsch zeigen. Ein Chef muss also seinen Mitarbeitern nicht einen höheren Bonus zahlen oder Strategieseminare anbieten, sondern mit ihnen gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten. 

Wie schneidet Ihr langjähriger Arbeitgeber ab, die NZZ? Immerhin sind es bald 22 Jahre, die sie dort arbeiten ...

Tatsächlich gut, sonst wäre ich nicht so lange dort geblieben. Ich hatte in meinem Beruf immer sehr viele Freiheiten und konnte in die Tiefe gehen mit meiner Arbeit. Ich durfte die Graber-Kolumnen machen, obwohl die Vorgesetzten nicht überzeugt waren davon. Auch ging und geht die NZZ mit dem Strukturwandel, der auf der Arbeit heutzutage für eine enorme Schnelllebigkeit sorgt und zusätzlichen Stress generiert, meiner Meinung nach gut um. Seit diesem Jahr arbeite ich als freie Mitarbeiterin und bin auch für diese Möglichkeit dankbar. Selbstverständlich hatte ich in den letzten Jahren ab und zu den Reiz, etwas Neues auszuprobieren, und habe auch ­einige Angebote bekommen. Trotzdem haben die Vorteile bei der NZZ immer überwogen. Das Schreiben und der Journalismus sind meine Leidenschaft.

Wie angenommen fühlen Sie sich als Frau in der Arbeitswelt?

Heutzutage fühle ich mich sehr wohl. Vor 22 Jahren war das Umfeld aber schon noch etwas anders; da war ich oftmals die einzige Frau unter vielen Männern. Gerade im Wirtschaftsbereich überwiegt der Männeranteil. Als meine Kinder zur Welt kamen, musste ich mir schon manchmal Kommentare anhören, darunter Sätze wie «Kannst du denn nach deinem Mutterschaftsurlaub wieder arbeiten?» oder «Wo sind die Mamis?». 

Was braucht es Ihrer Meinung nach noch zur vollständigen Gleichberechtigung?

Es besteht immer noch einiger Handlungsbedarf. Dinge wie Lohn, Beför­derungsmöglichkeiten, Jobsharing, Frauenförderung oder auch Blockzeiten könnten immer noch verbessert werden. Das sind nur einige Beispiele; es gibt in vielen Bereichen noch Luft nach oben. 

Sind Frauen bessere Chefs als Männer?

Das kann man pauschal nicht so sagen. Ich bin jedoch auf jeden Fall der Meinung, dass auch in diesem Bereich ein grosser Spielraum nach oben besteht und es definitiv noch mehr Frauen in Führungspositionen geben dürfte. Vielleicht kann man sogar sagen, dass Frauen tendenziell empathischere Führungskräfte sind. Oftmals heisst es, Frauen seien weniger risikobereit. Ich bin skeptisch gegenüber solchen Pauschalisierungen. Aber wer weiss: Vielleicht hätten wir gewisse Probleme heute gar nicht, wären Führungskräfte in den letzten Jahren nicht so viele Risiken eingegangen. 

Wie handhaben Sie den Spagat zwischen Familie und Arbeit? 

Mittlerweile sind unsere Mädchen ja Teenager und es funktioniert sehr gut. Früher, als die Kinder klein waren, war es jedoch schwierig. Mein Mann hat mich schon unterstützt, jedoch hatte er als ­Unternehmensberater nicht so viel Freiraum. Somit lag ein grosser Teil der Kinderbetreuung an mir. Damals rannte ich regelrecht zwischen der Redaktion und der Krippe hin und her. Beide Sparten, ­Familien- und Berufsleben, sind nicht planbar, was diese Zeit sehr anspruchsvoll gestaltet hat. Auch hier fielen bei den Kollegen einige Kommentare. 

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, die «Me too»-Debatte, das hat kürzlich auch die Arbeitswelt beschäftigt, so auch die Medien – findet diese auch in Ihren Kolumnen statt?

Ich habe glücklicherweise noch keine Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht. Ich finde es aber sehr gut, dass auf dieses Thema aufmerksam gemacht wird und dass diese Dinge aufgedeckt werden. Jedoch habe ich mich dagegen entschieden, diesen Aspekt in die Kolumnen einzubringen. Meine Geschichten haben immer eine Prise Humor, und über gewisse ernstere Themen wie eben Gleichbehandlung der Geschlechter oder den Spagat zwischen Familie und Arbeit machen sie sich auch manchmal etwas ­lustig. Jedoch möchte ich das Thema sexuelle Belästigung nicht humorvoll rüberbringen, dafür ist mir diese Sache zu ernst. 

Wie haben Sie das Arbeiten in der ­Corona-Pandemie in Erinnerung? 

Ich erinnere mich sehr gut daran. Wir hatten es gut bei uns in der Familie; die Kinder in ihren Zimmern, mein Mann im Wohnzimmer und ich in unserem Zimmer. Das ging auch lange gut, bis dann die Mädchen plötzlich anfingen, in der Wohnung herumzuhüpfen und Melodien mit Gläsern zu erzeugen (lacht). Da wurde es mir langsam etwas zu viel und ich sehnte mich nach der Zeit vor der Pandemie. Ich kann mir ehrlich nicht vorstellen, wie das Familien mit Kleinkindern gemeistert haben. 

Sie wohnen in Küsnacht -–was hat Sie hierhin geführt? 

Ich wohne seit bald 14 Jahren hier und bin eigentlich mehr durch Zufall hierhergekommen. Wir wohnten vorher in Herrliberg, wo ich auch meine Jugendzeit verbracht habe, und mussten aus unserem Haus raus. Eine Kollegin erzählte mir, dass es in Küsnacht ein freies Mietobjekt gab, das zu uns passen würde. Somit sind wir schliesslich hier gelandet. Ich bin sehr dankbar dafür. Wir wohnen in Gehdistanz zum See, die Mädchen haben die Schule sehr nahe und wir fühlen und einfach sehr wohl hier.

Weshalb sind Sie nicht mehr fest angestellt? Und wie sehen Ihre Karrierepläne aus?

Ich bin froh, dass ich jetzt Teilzeit bei der NZZ arbeiten kann und mir somit mehr Zeit für Verschiedenes nehmen kann, zum Beispiel für weitere Bücher oder andere Projekte. Ich bin sehr offen, was die Zukunft bringt, und lasse mich überraschen. Jetzt freue ich mich erst mal auf die Lesung in Küsnacht, nachdem die Lesung in Meilen gut angekommen ist.

Soll Graber, wie Philip Maloney, der Detektiv mit den haarsträubenden Fällen, eine eigene Hörspielserie am Radio bekommen?

(Lacht) Falls mir das jemals jemand anbieten würde, würde ich natürlich nicht nein sagen. Aber auch hier bin ich sehr offen, wie es mit Graber weitergeht. Ich bin einfach froh, dass die Geschichten gut ankommen und sich die Leserinnen und Leser mit dieser Figur identifizieren können.