«Ich will mit der Forchbahn Geschichte schreiben»

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Marc Rizzi ist der neue Chef bei der Forchbahn. Als Nachfolger von Geschäftsführer Hanspeter Friedli übernimmt er viele Baustellen. Und als Bündner erklärt er, was die «Frieda» mit der Bernina-Linie verbindet.

«Ein Promille», sagt Marc Rizzi in markigem Bündnerdialekt, «es fäält nume eis klins Promille» – und dann könne die kleine Forchbahn aufschliessen zur berühmten Bernina-Linie, die 2008, im hundertsten Jahr ihres Bestehens, mit dem Unesco-Prädikat «Weltkulturerbe» ausgezeichnet worden ist. «Frieda Bünzli» – so nennen die einheimischen Fahrgäste liebevoll ihre 112 Jahre alte Forchbahn – kann zwar weniger mit dramatischen Landschaften oder spektakulären Viadukten aufwarten. Aber sie überwindet, wenn sie bei der Rehalp die Stadt verlässt und sich zum Zollikerberg hocharbeitet, eine Steigung von immerhin 69 Promille. Die Bernina-Linie bringt es als weltweit steilste Adhäsionsbahn – will heissen: ohne Zahnradunterstützung – auf 70 Promille.

Vom Eisenbahn-Virus befallen

Wenn einer den kühnen Vergleich zwischen Bernina- und Forchbahn ziehen darf, dann ist es Marc Rizzi. Seit einem ­Monat leitet er als neuer Geschäftsführer einen Bahnbetrieb, der der Konkurrenz ­einiges voraushat: So kann man im Reisezentrum, das der Forchbahn angeschlossen ist, selbst Kreuzfahrten in die Antarktis buchen. Und auf der anderen Seite des Bahnhofs finden Fahrgäste, die ein dringendes Bedürfnis verspüren – gratis, notabene! – eine saubere, moderne Toilette. 

Rizzi war schon als Kind vom Eisenbahn-Virus befallen. Damals hat der Erstklässler im Elternhaus in Domat/Ems bei Chur seine Modelleisenbahn gestaltet – eine alpine Landschaft mit Strassen, Häusern, Bäumen und einem See, mit Brücken und Tunnel, Schienen und Weichen, Lokomotiven, Personenwagen und Güterwaggons. Jedes Mal, wenn drinnen ein Zug entgleiste, wusste Marc: Ich muss langsamer fahren. Oder den Kurvenradius erweitern. Und nahezu jedes Mal, wenn draussen der Hochgeschwindigkeitszug TGV oder einer der vielen knallroten Züge der Rhätischen Bahn über das Dreifachgleis vor dem Haus rauschte, stand Marc staunend am Fenster und träumte seinen Traum.

Marc träumte allerdings nicht den Bubenklassiker vom Lokführer, er ist weniger Eisenbahn-Romantiker, vielmehr könnte man ihn als so etwas wie ein Zahlenpragmatiker bezeichnen. In der Schule sei die Lehrerin überzeugt gewesen, erinnert er sich, «dass aus mir bestimmt ein Banker werden würde, weil ich ganze Schulhefte mit Zahlenreihen von eins bis x Milliarden füllte.»

Auch die Lehrerin lag falsch: Marcs Begeisterung für die Welt der Zahlen war nicht finanzieller Natur; ihn interessierten weder Börsen- noch Devisenkurse; es war das raffinierte Ineinandergreifen von Abfahr-, Anschluss- und Ankunftszeiten, von Weichen, Gleisen und Perrons. «Ich war und bin», sagt Marc Rizzi, «ein Fan des öffentlichen Verkehrs.»

Er startete seine Karriere in der Bündner Heimat, stieg auf zum Betriebsdisponenten bei der Rhätischen Bahn und stieg um ins touristische Geschäft als Manager beim Branchenleader Kuoni, kehrte als Leiter Planung zurück auf die Schienen der aargauischen Wynental- und Surentalbahn, wagte schliesslich den Sprung ins kalte Wasser und führte das Kommando im Betrieb der Zürichsee-Schifffahrtsgesellschaft.

Und jetzt also die «Frieda». Mit der Forchbahn übernimmt Marc Rizzi die Verantwortung für annähernd hundert Mitarbeitende und für ein Grossprojekt, das gleichermassen anspruchsvoll, ehrgeizig und umstritten ist – es heisst: «Frieda 2030».

Hanspeter Friedli, der die Forchbahn zwölf Jahre lang auf Erfolgskurs getrimmt und in letzter Zeit einigermassen unbeschadet durch die pandemischen Turbulenzen gesteuert hat, übergibt seinem Nachfolger eine Reihe kleinerer und grosser Baustellen – von der neu überdachten Haltestelle Zollikerberg bis zur geplanten Sicherung des Bahnübergangs Rellingerstrasse.

Mit dem markanten Anstieg der Fahrgastzahlen, der wegen der Eröffnung des neuen Kinderspitals beim Balgrist er­wartet wird, erlangt der Ersatz des in die Jahre gekommenen Rollmaterials durch moderne und deutlich längere Züge eine zusätzliche Dringlichkeit. Deshalb wird beim Bahnhof Forch ein neues Instand­haltungszentrum erstellt, ausserdem wird der Zumiker Tunnel renoviert, ­diverse Bahnübergänge und Haltestellen müssen saniert werden, und zwischen der Neuen Forch und dem Bahnhof Forch wird das Trassee seeseitig durch eine Doppelspur erweitert. Und das alles soll innert der nächsten vier Jahre aufgegleist werden.

Da hat der abtretende Chef dem neuen ganz schön was eingebrockt ...

«Kein Problem», winkt Marc Rizzi ab. «Ich sehe das durchaus positiv und mag Herausforderungen: Welcher Betriebsleiter hat schon die Chance, so gut vorbereitete Projekte zu vollenden? Schon bald sind die letzten Bahnübergänge gesetzeskonform gesichert.»

Weitere Herausforderungen

Doch die nächste Challenge kommt erst noch: «Sobald das Projekt ‹Frieda 2030› abgeschlossen sein wird, nehmen wir den Rückbau in Angriff. Dann muss alles wieder auf Normalbetrieb heruntergefahren werden, provisorische Bauten werden abgerissen oder umgenutzt, und die Hälfte der Belegschaft wird uns wieder verlassen – lauter Herausforderungen, die man nicht unterschätzen darf ...» Aber die wird er schon meistern. Daran liessen die Herren vom Verwaltungsrat und in der Direktion der obersten Führungscrew keinen Zweifel, als sie am vorletzten Montag den neuen Geschäftsführer offiziell vorstellten und dabei tief in die Kiste mit den grossen Worten griffen. Rizzi sei der bestgeeignete in einer langen Reihe von Kandidaten gewesen, erklärt Verwaltungsratspräsident Martin Wyss und hofft, dass die Rekordmarke von sechs Millionen Fahrgästen pro Jahr bald wieder erreicht werde: «Heute schon reisen Tag für Tag über 16 000 Fahrgäste mit der Forchbahn; das entspricht einer 40 Kilometer langen ­Autokolonne.» Und Rizzi beschwört schon vollmundig die Zukunft: «Ich freue mich darauf, mit der Forchbahn Geschichte schreiben zu dürfen.»

Offen bleibt eine Reihe von Fragen, die von dieser Zeitung wiederholt gestellt und bislang meist ausweichend beantwortet worden sind. Was sagt Marc Rizzi zum Beispiel zum Problem «Restaurant Neue Forch»? Wie lange noch wird man italienische Delikatessen geniessen können, wenn dereinst das zweite Gleis fertiggestellt ist und der Zug dem Koch sozusagen durch die Küche rast?

Marc Rizzi: «Ganz so schlimm wird es schon nicht kommen; allenfalls muss der Eingang verschoben werden, aber wir werden auch künftig italienische Spezialitäten geniessen können.»

Zweitens, zum Problem «Sackbahnhof»: Wie lange dauert es noch, bis die Endstation Esslingen kein Sackbahnhof mehr ist, sondern ein Knotenpunkt mit Anschluss nach Uster und oder Rapperswil?

Marc Rizzi: «Das ist ferne Zukunftsmusik. Wenn allerdings ein Bedürfnis nachgewiesen und die Finanzierung geregelt ist, kann ich mir eine Erweiterung durchaus vorstellen.» Und schliesslich zum Problem Fahrgastinformation: Es scheint, als sei die Renovation eines Tunnels rascher abgeschlossen als eine übersichtliche Information der Reisenden: Wann erfährt der Fahrgast auf der Passerelle, auf welchem Gleis welcher Zug wann wohin fährt?

Marc Rizzi: «Das Problem ist erkannt und wird im Rahmen eines Gesamtprojekts auf der Ebene des Zürcher Verkehrsverbunds gelöst; dort wird die entsprechende Software ausgearbeitet. Aber wann das so weit sein wird, lässt sich im Moment noch nicht sagen.»

Und zum Schluss noch eine ganz private Frage: Marc Rizzis Frau arbeitet als Lokführerin bei Aargau Verkehr, zu welchem auch sein ehemaliger Arbeitgeber gehört, die Wynental- und Surentalbahn. Da dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Gattin im Führerstand der «Frieda» sitzt. «Nein, das ist keine gute Idee», schmunzelt der neue Geschäftsführer. «Das kommt selten gut, wenn der Mann das Geschäft und die Frau die Lok führt. Das lassen wir besser bleiben, wie es ist.»

Bei Männern untereinander ist das ­allerdings kein Problem. Rizzis Vorgänger Friedli jedenfalls wird ab sofort auch sein Untergebener sein – und sich, wenn Not am Mann ist, als Lokführer nützlich machen.