Von der Avantgardistin zur Kriegsfotografin

Erstellt von Lisa Maire |
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Ihre eindringlichen Kriegsreportagen machten Lee Miller zu einer der bekanntesten Fotojournalistinnen des 20. Jahrhunderts. Doch ihre Arbeit war weit facettenreicher: Das Museum für Gestaltung gibt erstmals einen umfassenden Einblick in Lee Millers Lebenswerk.

Das Œuvre der amerikanischen Fotografin Elizabeth «Lee» Miller (1907–1977) ist von verblüffender inhaltlicher Spannbreite: Ihren herausragenden Fotoreportagen aus dem kriegsversehrten Europa stehen zahlreiche ebenso grossartige Reise-, Porträt- und Modefotografien gegenüber. Rund 200 Fotografien und weitere Dokumentationen ihrer surrealistisch geprägten Arbeit sind zurzeit im Museum für Gestaltung zu sehen – thematisch und chronologisch in verschiedene Schaffensphasen gegliedert. Millers Arbeiten zeugen durchs Band weg von einer starken, selbstbestimmten Frau, die Grenzen auslotete, mit Konventionen brach. «Der Surrealismus», so Kuratorin Katrin Gimmi bei einer Führung durch die Ausstellung, «kam ihrer Persönlichkeit entgegen.»

Pariser Surrealismus-Schule

Millers fotografischer Karriere gingen einige Jahre als Fotomodell voraus. Im New York der 20er-Jahre wurde die hochgewachsene, androgyn wirkende 19-Jährige mit dem schönen Profil vom Verleger der legendären «Vogue» von der Strasse weg als Modell engagiert. Nach drei erfolgreichen Jahren vor der Kamera folgte 1929 in Europa der Wechsel hinter die Kamera. Miller, die sich der Pariser Avantgarde-Szene anschloss, suchte sich gezielt den Surrealisten Man Ray als Lehrmeister aus, um das fotografische Handwerk von Grund auf zu erlernen.
Über ihre anfängliche Rolle als Assistentin und Muse wuchs sie schnell hinaus: Ihre ungewöhnlichen, oft provokativen Perspektiven entwickelten sich zu einer eigenständigen künstlerischen Handschrift. 1933 kehrte die Avantgarde-Fotografin zurück nach New York, wo sie ein eigenes Fotostudio (Mode und Porträts) betrieb, bevor sie nach der Heirat mit einem ägyptischen Geschäftsmann nach Kairo zog. Aus dieser Zeit stammt eine Serie von grossartigen Landschaftsaufnahmen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, lebte Miller mit ihrem neuen Partner, dem Surrealisten Roland Penrose, in London. Für die britische «Vogue» fotografierte sie Modestrecken und ging auch hierbei ihren eigenen Weg. Sie emanzipierte sich von der klassischen Modefotografie, holte ihre Modelle aus den Studios raus und lichtete sie draussen in vorgefundenen oder arrangierten Situationen ab.

Mit den Alliierten in den KZs

Nach dem «London Blitz» von 1940/41 waren diese Aufnahmen von besonderen Kontrasten geprägt: Millers Modelle posierten im eleganten Look vor der Kulisse zerbombter Häuser. Weil ihre männlichen Journalisten-Kollegen eingezogen wurden, übernahm die Fotografin später auch Textreportagen. Ihre Artikel für die britische und amerikanische «Vogue»-Ausgabe zeichneten sich wie ihre Fotos durch Schärfe und Witz aus.

1942 wurde Miller offiziell als Kriegsberichterstatterin der US-Armee akkreditiert. Wobei sie bei ihrer Arbeit für die «Vogue» (die dem US-Informationsministerium unterstellt war) den Fokus auf Frauen richten sollte, die Kriegshilfsdienste leisteten, etwa in den Feldlazaretten. In ihrer «eingebetteten» Rolle folgte sie den alliierten Truppen ab 1944 von der Normandie über Paris bis nach Deutschland, wo sie 1945 das immense Grauen in den eben befreiten Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald dokumentierte. Dabei ging sie mit der Kamera näher ran als andere Fotografen sich trauten. «Believe it» titelte sie die unglaublich schockierenden Fotos, die sie der Redaktion schickte.

Um die Welt ging auch ein gestelltes Bild, das Lee Miller in der Badewanne von Hitlers Münchner Wohnung zeigt, aufgenommen von ihrem Fotografenkollegen David E. Scherman. Über der Wanne ein Porträt des Mannes, der für die NS-Gräuel verantwortlich war, zentral vor der Wanne platziert ein paar US-Army-Stiefel. Die irritierende Inszenierung entstand nach der Einnahme von München durch die Amerikaner und just an dem Tag, an dem sich Hitler suizidierte, wie sich erst später herausstellte.

Fotos auf dem Estrich versteckt

Die intensiven Einsätze hinterliessen tiefe Spuren in Millers Psyche. Traumatisiert kehrte sie zurück nach England, legte ihre Arbeit als Fotografin praktisch nieder, wurde Mutter. Ihr fotografisches Spätwerk besteht vor allem aus Aufnahmen illustrer Gäste, die das Ehepaar Miller-Penrose in den 1950er-Jahren auf seinem Landsitz in Sussex beherbergte. Darunter Künstler wie Picasso, Mirò, Ernst, Duchamps, Tapiès, Man Ray. Nach 1960 erfand sich Lee Miller nochmals neu als Kochkünstlerin: Sie organisierte kulinarische Anlässe mit Freunden und verfasste dazu originelle Rezepte.
Alle Fotos in der Ausstellung stammen aus dem privaten Nachlass der Lee Miller Archives in East Sussex. Das fotografische Material – Tausende von Negativen – wurde erst nach Lee Millers Krebstod 1977 von ihrem Sohn Antony Penrose auf dem Estrich entdeckt und in die 1982 eröffneten Archive überführt. Die Fotografin, die unter Depressionen litt und nie über den Krieg sprach, hatte alle ihre Bilder unter Verschluss gehalten.

Museum für Gestaltung, Toni-Areal, Pfingstweidstr. 96. Ausstellung bis 3. Januar 2021. Geöffnet Di–So 10–17 Uhr, Mi 10–20 Uhr. www.museum-gestaltung.ch