Was ist das wahre Weihnachtsgefühl?

Erstellt von Andrea Marco Bianca |
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Inmitten des geschäftigen Treibens der Stadt sucht Marc nach einer Antwort: Eine besinnliche Entdeckungsreise. Dies ist eine Weihnachtsgeschichte von Andrea Marco Bianca, Pfarrer in Küsnacht. Er hat in die Erzählung Themen-Wünsche von älteren Menschen eingebunden – und KI ausprobiert.

Die Stadt ist voller Leben. Zwischen den hohen Gebäuden und den wirbelnden Schneeflocken spürt man die Vorfreude auf Heiligabend. Zugleich liegt eine Unruhe in der Luft. Inmitten dieses Trubels fühlt sich Marc, ein nicht mehr ganz junger Mann, verloren. Sein Blick huscht von einem Gesicht zum nächsten, während er sich durch die verschneiten Strassen drängt. Er ist auf der Suche nach etwas, das er nicht beschreiben kann, aber weiss, dass es ihm fehlt. «Wo ist bloss mein Weihnachtsgefühl geblieben?», murmelt er und kämpft sich durch die hektischen Menschenmassen. 

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Plötzlich fällt sein Blick auf eine Kirche. Das warme Licht in ihren Fenstern zieht ihn magisch an. «Was solls», denkt er und tritt ein, ohne zu wissen, was ihn erwartet. Eine wundersame Stille empfängt ihn. Sanfter Kerzenschein umhüllt ihn. Im Halbdunkel entdeckt Marc eine Gruppe von Menschen, die gemeinsam die Weihnachtsgeschichte lesen. Eine ältere Frau bemerkte ihn und lächelt einladend. Zögernd nähert er sich. Er hört ihnen aufmerksam zu: «Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine grosse Freude ...» Diese altbekannten Worte klingen wie eine unsichtbare Brücke zu seinem Herzen, das sich im Trubel der Stadt verloren glaubte.

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Als Marc die Kirche verlässt, geht er durch dieselben belebten Strassen, aber er sieht die Menschen mit anderen Augen. Er entdeckt Jugendliche, die einen Teil ihres ­Essens mit einem Obdachlosen teilen. Er beobachtet eine Familie, wie sie sich um einen verängstigten fremden Hund kümmert. Beides hätte er zuvor kaum wahrgenommen. Er lächelt leise.

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Am Weihnachtsmorgen findet Marc sich wieder in der Kirche ein. Nicht mehr verloren, sondern suchend. Den Worten des jungen Pfarrers kann er nur schwer folgen. Da sieht er die Frau, die ihn am Heiligabend eingeladen hat. Er lächelt sie an. Er verspürt eine tiefe Dankbarkeit für den unerwarteten Zugang zu Weihnachten, den sie ihm eröffnet hat. Er ahnt: Weihnachten muss mehr sein als Familie und Festlichkeiten.

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Als die Glocken den Gottesdienst ausläuten und Marc durch das Schneegestöber nach Hause geht, erscheint ihm Weihnachten mit jedem Schritt mehr und mehr wie der Anfang einer hoffnungsvollen Reise. Sie wird wohl noch länger dauern, denkt er. Aber er spürt zugleich: Sie hat ihn bereits verändert. Er empfindet eine ihm bisher unbekannte Verbundenheit. Nicht nur mit den ihm unbekannten Menschen in der Kirche, sondern mit etwas Grösserem, etwas Unfassbarem, das er sich nicht erklären kann. 

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Und so folgt er gegen Abend seiner inneren Stimme und wandert auf den Stadtberg. Ein Gesprächsfetzen, den er in der Kirche aufgeschnappt hat, klingt in seinem Herzen nach: «Auf dem Stadtberg steht eine beleuchtete Linde.» In Gedanken versunken macht er sich auf den Weg. Schon bald weicht das Leuchten der Strassenlaternen dem Glanz des Sternenhimmels über ihm. Auf dem Berg angekommen, entdeckt er die Linde. In der Ferne schimmerte sie golden und warm. Er geht auf sie zu. Mit der strahlenden Weihnachtslinde vor ihm und dem funkelnden Firmament über ihm fühlte sich Marc winzig klein. Und zugleich verbunden mit der unendlichen Weite des Universums. 

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Er erinnert sich an die Worte in der Kirche: «Euch wurde heute der Retter geboren ...» In diesem Moment scheint es ihm, als ob die Sterne am Himmel und die Linde auf der Erde ihm die Weihnachtsgeschichte neu erzählen wollen. Er schliesst seine Augen und lässt den Augenblick auf sich wirken. Erneut durchdringt ihn dieses Gefühl der Verbundenheit. Im leuchtenden Schein der Linde erscheint es ihm wie ein unsichtbares Netz, das ihn jedem Lebewesen, jedem Stern am Himmel und jeder Schneeflocke, die leise zu Boden fällt, näher bringt. 

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Als er vom Berg zurück in die Stadt wandert, ist sein Herz erfüllt von dieser neuen Sicht auf sein Leben. Mit einem leisen Lächeln geht er nochmals in die Kirche. Jetzt ist sie dunkel und leer. Doch das kümmert ihn nicht. Er ist nicht mehr auf der Suche nach seinem verlorenen Weihnachtsgefühl. Er ist erfüllt von einer geheimnisvollen Gewissheit: Die Geburt von Jesus Christus ist ein Ereignis, das die Welt auch heute noch verändern kann. Er zündet eine Kerze an und denkt: Weihnachten lädt ein zu einer Reise, einer ­inneren Reise von der Dunkelheit zum Licht, von der Unsicherheit zur Klarheit. Wohin sie mich wohl noch führen wird?