Zürich liest ein Buch aus Wiedikon

Erstellt von Lisa Maire |
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Der Roman «Während wir feiern» von Ulrike Ulrich macht den Auftakt zum neuen Veranstaltungsformat «Zürich liest ein Buch», das Literaturinteressierte zum Mitlesen und Mitreden auffordert. Diese Zeitung hat sich vorab mit der Autorin unterhalten. 

«Während wir feiern» spielt im Zürcher Kreis 3: Die deutsche Sängerin Alexa, die gerade einen Einbürgerungsprozess durchläuft, bereitet am Nationalfeiertag eine Geburtstagsparty auf ihrer Dach­terrasse vor. Am gleichen Tag sucht der schwule Asylbewerber Kamal dringend eine sichere Bleibe, denn ihm droht die Abschiebung zurück nach Tunesien, wo Homosexuelle verfolgt werden. Im Laufe des Tages eskalieren die Ereignisse, und nicht nur das Fest steht infrage. 

Luxussorgen und Existenzängste
Ulrike Ulrichs jüngster Roman ist topografisch präzise verankert: Wer sich in Wiedikon auskennt, kann beim Lesen die Wege der Romanfiguren ziemlich genau verfolgen. Manche ihrer Texte seien verortet, sagt die Autorin im Gespräch. Diesmal habe der starke Lokalbezug aber viel mit der literarischen Vorlage zu tun, von der sie sich inspirieren liess: Virginia Woolfs Roman «Mrs. Dalloway». Wie der Klassiker zeichnet auch Ulrichs Roman den Verlauf eines bestimmten Tages an einem bestimmten Ort und aus der Perspektive eines bestimmten Kreises von Personen. 
Die Geschehnisse im Buch konzentrieren sich auf den 1. August 2015. Es ist die Zeit, als die Krise der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik ihren Anfang nahm und die SVP gerade ihre «Durchsetzungs-Initiative» lanciert hatte. Die Schweiz und das Schweizer-Sein, die unterschiedlichen Klassen von Eingewanderten, Luxussorgen und berechtigte Ängste sind Thema des Buchs. Genauso wie die Sehnsüchte, Krisen, Lebenslügen einer bestimmten Gesellschaftsschicht: Auf Alexas Dachterrasse trifft sich die Zürcher «Bubble» der akademisch Gebildeten oder im Kulturbereich Tätigen, die gegen rechts politisiert, sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzt, dabei aber auch immer wieder an den eigenen Ansprüchen scheitert. 

Autobiografische Einsprengsel
Wiedikon ist nicht nur Schauplatz der Romanhandlung, sondern seit vielen Jahren auch Lebensmittelpunkt der 52-jährigen Autorin. Wie ihre Hauptfigur Alexa ist auch sie einst aus Deutschland in die Schweiz gezogen. Alexa kam wegen der Arbeit und blieb wegen der Liebe. Wie war das bei ihr? Ulrich schmunzelt: «Ich bin wegen der Liebe gekommen und wegen der Liebe geblieben.» Halber Matchpoint also. Doch es gibt weitere autobiografische Einsprengsel. Etwa Alexas Einbürgerungswunsch. Im Buch steht der Entscheid noch aus, und Alexa pflegt absurde Ängste, im letzten Moment noch gegen irgendwelche Gesetze zu verstossen und ausgeschafft zu werden. Das sei natürlich abwegig, was Alexa ja auch wisse, sagt ­Ulrich, heute schweizerisch-deutsche Doppelbürgerin. Sie räumt aber ein: «Ich selbst hatte auch manchmal etwas Angst – so ein diffuses Gefühl –, dass es mit der Einbürgerung nicht klappen könnte. Wegen der Teilnahme an einer unbewilligten Demo. Oder so etwas.»
Ulrich schreibt nicht zwingend im stillen Kämmerlein. Arbeitsplatz und Ort der Inspiration ist auch ein Wiediker Café. Nach einem strikten Konzept, immer vormittags, immer ohne Handy und Internet, macht sie hier Notizen, die sie dann nachmittags zu Hause am Compi überarbeitet. Das Rausgehen, der feste Arbeitsrhythmus, das ist ihr sehr wichtig. Corona und Beizen-Shutdown brachten den Schriftstellertakt ins Stottern. 

Tricks gegen die Schreibkrise
«Zuerst fühlte ich mich wie gelähmt», so Ulrich. Inzwischen habe sie aber Tricks gefunden, «wie ich auch zu Hause schreiben kann, als wenn ich im Café wäre». Wie das geht? Sie stellte sich eine Kaffeemaschine ins Arbeitszimmer, schreibt weiterhin vormittags von Hand, die Tür bleibt zu, das Handy draussen. Vielleicht sollte sie sich noch den vertrauten Klangteppich – Musik, Stimmen, Tassengeklapper – ins Zimmer holen, lacht Ulrich.
Nicht einfach wegtricksen lassen sich die wirtschaftlichen Auswirkungen von Corona. Ulrich: «Mir ist nochmal besonders aufgefallen, wie schwierig es ist, mit Schreiben Geld zu verdienen.» Wegen Corona kam «Während wir feiern» erst Monate später als geplant heraus und viele Lesungen – für die meisten Autorinnen und Autoren eine Haupteinnahmequelle – mussten abgesagt werden. Umso mehr freut sich Ulrich, dass ihr Roman nun dank dem Projekt «Zürich liest ein Buch» neue Aufmerksamkeit erhält. Falls dann wie geplant Rundgänge zu den Schauplätzen im Buch möglich wären: Wohin würde sie ihr Lesepublikum führen? Das sei noch ungewiss, sagt Ulrich. Aber der Idaplatz und das Kindergartenhaus wären wohl dabei. 

Ulrike Ulrich, Während wir feiern. Piper 2020, 272 Seiten. ISBN: 978-3-8270-1408-5

«Zürich liest ein Buch»: Mitlesen heisst mitreden
«Eine Stadt liest ein Buch» – das Veranstaltungsformat ist seit vielen Jahren weltweit bekannt. Nun sei es Zeit, dass auch Zürich ein Buch liest, findet der Zürcher Buchhändler- und Verlegerverein. Das neue Format soll Leserinnen und Leser – speziell auch jüngere – ansprechen, die an Literatur, Kultur und einem Austausch dar­über interessiert sind. Die zugehörige Öffentlichkeitskampagne wird in ­diesen Tagen lanciert. Am 23. April, dem Weltbuchtag, erfolgt die Auftaktveranstaltung (analog und Livestream) und in der folgenden Woche sind dann weitere Events ­geplant. Je nach Pandemiesituation können dies Lesungen, Signierstunden, Rundgänge an Originalschauplätzen des Buchs oder etwa auch Flashmobs sein. Infos (ab 15. März): www.zuerich-liest-ein-buch.ch