«Adliswil, Bauerndorf im dunklen Sihltal»

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Vieles lernt man bei historischen Adliswiler-Stadtrundgängen. Zum Beispiel, dass der letzte im Kanton Zürich Guillotinierte hier gelebt hat, dass bis in die 1990er-Jahre unter dem Schulhaus Kronenwiese zwei Gefängniszellen existierten und dass der erste Personenlift Adliswils im alten Hotel Bahnhof rauf und runter fuhr. Den Rundgang ermöglichten die «Modernen Männer 50+», brilliert hat mit grosser Detailkenntnis Christian Sieber, Präsident des hiesigen Geschichtsvereins. Gegen zwanzig Interessierte folgten seinen Ausführungen.

Adliswil wird zur Wohngemeinde

Beim ersten Halt an der Kronenstrasse erfährt der Zuhörer, dass diese früher Webereistrasse geheissen hat, dass die Wachtbrücke eigentlich als Teil eines sogenannten Strassenvierecks konzipiert war, der Rest aber nie realisiert wurde, dass die gegenüber dem Restaurant Wachtstübli stehenden Häuser auf den Namen Schwedenhof hören und dass gleich daneben eines der ersten Schulhäuser der Gemeinde steht und noch heute rund dreissig Dorfbrunnen zum Wohle der Bevölkerung betrieben werden. Spannend auch die Erkenntnis, dass beim Restaurant Krone früher die erste Poststelle einquartiert war und sich im dahinter angefügten Zubau in den 1950er-Jahren ein Tanz- und Theatersaal befanden; später logierte darin die erste Migrosfiliale Adliswil – von den damaligen Gewerbetreibenden übrigens mit scheelem Blick beobachtet. In dieser Zeit entwickelte sich das ehemalige Bauerndorf immer deutlicher vom Industriestandort zur Wohngemeinde vor Zürichs Toren.

Radsport-Zentrum
Der Historiker: «Das Dorf war früher in Wachten eingeteilt, man sprach beispielsweise von der Mühli- und der Schmittenwacht. Der Name leitet sich ohne Zweifel vom Nachtwächteramt ab; immerhin patroullierten solche noch bis in die 1920er-Jahre durch unsere Strassen.» Interessant auch das schmucke Haus an der Kreuzung Kronen-, Kilchbergstrasse: Es trägt die Jahreszahl 1733 und beherbergte früher das beliebte Restaurant Bierhaus. Eine Zeitlang genoss Adliswil den Ruf eines Radsport-Mekkas, hatten doch in den 1950er-Jahren Ferdy Kübler, René Minder und Rolf Graf – alles herausragende «Gümmeler»-Grössen – hier ihren Wohnsitz. Wenig Sympathie können die Rundgangteilnehmer dem Bruggeplatz-Ensemble entgegenbringen: Der Coop steht zu nahe am ehemaligen Schulhaus und die Wohnhäuser hinter der Hauptpost verdecken die Sicht auf den Uetliberg. «Dabei durfte damals die Post ihr Gebäude ausgerechnet mit diesem Argument nicht höher bauen», erklärt Sieber. «Und hier beim heutigen Swisscom-Haus stand früher das berühmte Türmli-Schulhaus. Die im Turm stationierte Feuerglocke ist heute an der Tiefackerstrasse zu bewundern. Überdies: Wussten Sie, dass die Flora-strasse als untere Bahnhofsstrasse und die jetzige Albisstrasse als Dorfstrasse bekannt war?»

Kino Albis und Alte Mühle
Ja, auch einen Kinosaal hat Adliswil im letzten Jahrhundert besessen, dort, wo lange Zeit der Sport Helmi geschäftete und heute ein Lebensmittelhandel einquartiert ist. An seiner seitlichen Hauswand rankt sich aufgemalter Efeu. Vis-à-vis dem Mühli-steig steht ein unscheinbares Gebäude. Darin hausten Mitte des 19. Jahrhunderts Katharina und Heinrich Götti. Letzterer vergiftete seine sieben Kinder mit Salpetersäure und gilt noch heute als der grösste Kindermörder unseres Landes. Für diese Verbrechen musste er 1865 als Letzter der Schweiz unter der Guillotine sein Leben lassen. Neben der Brücke stand bis 1965 die jahrhundertealte Nägeli-Mühle; über sie wurde der Spinnerei Adliswil – heute Sitz der Firma Riesen Printmedia – Wasser zugeführt. Schweizweit bekannt wurde die Sihltalstadt über die Mechanische Seidenstoffweberei MSA. Ihre Blütezeit erlebte sie ab 1862 bis zum Ersten Weltkrieg. Sie beschäftigte in ihren besten Jahren gut tausend Arbeiter, unterhielt einen eigenen Bauernhof und einen Lebensmittelladen für die Angestellten. Ausgewoben ist bei der MSA allerdings schon lange, sie ist heute eine Immobiliengesellschaft. Die Gebäulichkeiten gelten als «Feuerwehrschreck», ist da doch viel Holz verbaut.
Nach all diesen packenden Einblicken lässt die Gruppe Moderne Männer 50+ den Vormittag mit einem verdienten Apéro ausklingen. (Text: Hans Lenzi)