Alt-Stadträtin referierte über Jeanne Hersch

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«Zu Unrecht vergessene Bücher» heisst die Reihe, bei der Prominente Bücher vorstellen. Den Anfang machte die ehemalige Politikerin Monika Weber mit einem Referat über die Philosophin Jeanne Hersch.

Die Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) im Gemeindezentrum in der Enge wird dieses Jahr 80. Sie wurde 1939 gegründet. Zu dieser Zeit war es besonders wichtig, ein bleibendes Gedächtnis für jüdisches Leben aufzubauen, da im Zweiten Weltkrieg die jüdischen Bibliotheken vernichtet wurden.
Die Bibliothek trägt das Prädikat «Kulturgut von nationaler Bedeutung» und beherbergt neben den Werken vieler jüdischer Autoren auch alle Bücher von Jeanne Hersch. Autor Charles Lewinsky, der den «Verein für jüdische Kultur und Wissenschaft» gründete und präsidierte, hatte die Idee, eine Reihe von Vorträgen mit dem Titel «Zu Unrecht vergessene Bücher» zu starten.

Monika Weber, frühere National-, Stände- und Stadträtin von Zürich, startete die Reihe mit einem Referat über die streitbare Philosophin Jeanne Hersch, die sie in Vorlesungen an der Genfer Universität kennen lernte. Nach Webers Pensionierung als Schulvorsteherin der Stadt Zürich widmete sie sich intensiv Jeanne Herschs Aufsätzen und dem in Interviewform verfassten biografischen Zeugnis «Schwierige Freiheit». Monika Weber äusserte sich in ihrem Referat bewundernd über diese Frau, die so viel zum Thema Freiheit und Erziehung zu sagen hatte. Vieles, was heute noch Gültigkeit hat. «Sie hat so wertvolle Gedanken formuliert; ihr Werk darf nicht in Vergessenheit geraten.» Zu diesem Zweck wurde die Jeanne-Hersch-Gesellschaft, deren Präsidentin Monika Weber ist, gegründet. Das Ziel von ihr und der Gesellschaft ist es, zu veranlassen, dass Jeanne Herschs Werk vollumfänglich im Netz steht und damit auch für künftige Generationen als kultureller Wert erhalten bleibt.

Sie bewunderte Karl Jaspers
Das 90-jährige, ausgefüllte Leben und das verdienstvolle Werk von Jeanne Hersch schilderte Monika Weber an diesem Anlass sehr engagiert, farbig und humorvoll. Ihr 15-seitiges Referat über die aussergewöhnliche Wissenschaftlerin kurz zusammengefasst: Jeanne Hersch war die Tochter von Liebmann Hersch, Professor der Demografie und Statistik an der Universität Genf und Liba Hersch, Ärztin in der Abteilung Abrüstung des Völkerbundes. Ihre Eltern waren polnisch-jüdische Immigranten, die 1904 in die Schweiz eingewandert waren.

Jeanne Hersch kam 1910 in Genf zur Welt. Nach abgeschlossener Matura begann sie Literaturwissenschaften zu studieren. Im Sommersemester studierte sie bei Karl Jaspers, bedeutender Psychiater und Philosoph, in Heidelberg. 1931 erwarb sie das Schweizer Bürgerrecht in Genf. Nach dem Staatsexamen in Literaturwissenschaft folgten Lehrertätigkeiten und Professuren im In- und Ausland. Von 1966 bis 1968 war sie Direktorin der Abteilung Philosophie der Unesco in Paris, wo sie das Grundlagenwerk «Das Recht ein Mensch zu sein» publizierte und dafür den Menschenrechtspreis sowie den Karl-Jaspers-Preis erhielt. Ihre Begegnung mit dem Existenzphilosophen Karl Jaspers prägte ihr philosophisches Lebenswerk. Er blieb ihr lebenslanges Vorbild; sie hatte ihn verinnerlicht. In ihrem Nachruf auf Jaspers bewunderte sie die Klarheit seines existenzialistischen und antitotalitären Denkens. Sie war sprachgewandt, unternahm als Privatlehrerin grosse Reisen, so zum Beispiel nach Chile oder nach Thailand, wo sie den späteren thailändischen König Bhumibol unterrichtet.
Über das Menschsein, die Freiheit und Verantwortung sagte sie: «Der Mensch, wenn er geboren wird, ist noch gar kein Mensch; er wird erst ein Mensch, indem er sich bildet, indem er Freud und Leid erfährt, indem er Verantwortung übernimmt und damit Sinn erfährt.» Freiheit und Verantwortung waren für Hersch untrennbar, oder wie sie sagte: «Il n’y a pas de liberté sans responsabilité.» Zur Erziehung meinte sie «Erziehen ist ein Begleiten, damit die Einsicht und das Vertrauen wachsen können.» Diese Erklärung kann jedem erziehenden Vater oder jeder erziehenden Mutter auch heute noch eine Hilfe sein.

Für die Linken oft zu konservativ
Sie begegnete den Revolten in den 68er-Jahren kritisch, was ihr von dieser Generation lange nicht verziehen wurde. Während die aufbegehrende Jugend Erziehung und Schule abschaffen wollte, hatten sie für Hersch eine zentrale Bedeutung. Dazu meinte sie «Ohne das Lehrer-Schüler-Verhältnis würde die Menschheit verkümmern. Ohne den Dialog gäbe es keine Kultur, kein gesellschaftliches Zusammenleben.»

In Genf, wo Jeanne Hersch aufwuchs, führten ihre Eltern ein offenes Haus. Es war eine kleine Wohnung, in der Studenten aus Russland und Polen ein und aus gingen. Es war die Zeit vor 1917, der Russischen Revolution. Im Hause Hersch wurde heftig debattiert. In dieser Atmosphäre des intellektuellen Widerstandes für soziale Gerechtigkeit und internationale Solidarität erlebte sie ihre jungen Jahre, und die haben sie geprägt. Wie sie immer sagte: «Ich bin Sozialistin von Geburt.» Somit trat sie mit 29 Jahren der SP bei. Doch für die Linken waren Herschs Ansichten oft zu konservativ und für die Rechten gehörte sie einfach zu den Linken. Es sollte noch erwähnt werden, dass sie im hohen Alter ihre Parteiangehörigkeit kündigte.

Zum Abschluss des fundierten Referats meinte Monika Weber lachend: «So wie Jeanne Hersch Karl Jaspers verinnerlichte, so verinnerliche ich Jeanne Hersch.» Nun wies sie noch darauf hin, dass es in der ICZ-Bibliothek eine ganze Reihe von Jeanne Herschs Büchern zu beziehen oder zu lesen gibt. Die Bibliothek steht nicht nur jüdischen Lesern offen.

Nächstes Referat am 4. März
Michael Guggenheimer, der jetzige Präsident des Vereins für jüdische Kunst und Wissenschaft, kündigte an, dass die Reihe jeweils am ersten Montag im Monat fortgesetzt wird. Die Nächste, die in der Bibliothek ein Buch vorstellen wird, ist Buchhändlerin Cornelia Schweizer. Am 4. März, 19 Uhr, wird sie über das Buch «Die Zimtläden» von Bruno Schulz referieren. (Jeannette Gerber)

4. März, 19 Uhr: «Zu Unrecht vergessene Bücher» mit Buchhändlerin Cornelia Schweizer. Eintritt frei. Voranmeldungen auf info@vjkw.ch. ICZ Bibliothek, Lavaterstrasse 33. www.vjkw.ch