Heute ist Tag des Weissen Stockes

Erstellt von Lisa Maire |
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Wie kommen blinde und sehbehinderte Menschen mit den Herausforderungen im öffentlichen Raum zurecht? Anlässlich des Internationalen Tags des Weissen Stockes am 15. Oktober erzählt der stark sehbehinderte Zürcher Reto Frey von seinen Erlebnissen.

Gross, kräftig, mit geradem Rücken steht Reto Frey am verabredeten Ort beim Bahnhof Oerlikon. Seine Augen schauen hell und wach in die Welt. Eigentlich weist nur der weisse Stock, den er vor sich hält, auf sein Handicap hin: Der 52-Jährige ist hochgradig sehbehindert. Seit er vor bald zehn Jahren unfallbedingt eine Hirnverletzung erlitt, beträgt seine Sehkraft nur noch drei Prozent. Das heisst, er nimmt seine Umgebung sehr verschwommen wahr – als schemenhafte Umrisse, Hell-Dunkel- oder Farbkon­traste. «Ich sehe, dass Sie etwas Gelbes anhaben», informiert er die Journalistin, die ihn auf einem seiner Wege durch die Stadt begleitet.

Einkaufen mit der Liste am Ohr

Vor seinem Unfall hatte der ausgebildete Betriebsökonom als selbstständiger Berater in der Gastrobranche gearbeitet. Den damit verbundenen Anforderungen nicht mehr gewachsen, kehrte er nach einer längeren Rehabilitationsphase wieder in seinen ersten Beruf als Koch zurück. In diesem beruflichen Umfeld behauptet er sich trotz seiner stark eingeschränkten Sehkraft bis heute.

So geht es denn auch mit der Journalistin zuerst einmal zur Migros im Bahnhof Oerlikon. Hier füllt Frey, das Ohr an seiner «sprechenden» Einkaufsliste und unterstützt von einem Mitarbeiter, die Einkaufstaschen: Am Abend steht für die rund 20 Gäste im Wipkinger Treff «Nordliecht» ein Pilzrisotto auf dem Menü.

Einkaufen beim Grossverteiler, wo man ihn gut kennt, das erledigt Frey mit links. Ebenso leicht findet er den Weg aus dem Bahnhof hinaus zur Tramhaltestelle. Als Oerliker kennt er ihn aus dem Effeff. Nur in den Jahren des Bahnhofumbaus hat er gelitten. Da lief er immer wieder in die Irre, landete in Sackgassen, scheiterte an Blindenleitlinien, die im Nirwana endeten. Ohne die Hilfe sehender Passanten kam er da nicht zurecht.

Fremdbesetzte Leitlinien nerven

Die allermeisten Menschen seien hilfs­bereit und rücksichtsvoll, sagt Frey über seine Begegnungen im öffentlichen Raum. Wenn allerdings auf den blindenspezifischen Leitlinien in Bahnhöfen oder an Tramhaltestellen «Kaffeekränzchen abgehalten werden», kann ihn das schon auch nerven. Bösen Willen unterstellt er niemandem. Die einen merken einfach nicht, wo sie da gerade stehen, die anderen wissen es nicht. Frey lacht. Er erinnert sich an eine Frau, die bis zu einer Begegnung mit ihm dachte, die Leitlinien seien für Rollkoffer. Auch als ÖV-Passagier macht er manchmal ärgerliche, verunsichernde Erfahrungen: Leute, die einsteigen wollen, bevor er ausgestiegen ist und ihn dabei rücksichtslos anrempeln. Ebenfalls mühsam: Seit Corona-bedingt die vordersten Sitze in den Bussen der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) gesperrt sind, wurde er von Fahrerinnen und Fahrern schon öfter auf die hinteren Einstiegstüren verwiesen. Dies, obwohl bei den VBZ eine Ausnahmeregelung für Fahrgäste mit weissem Stock gilt.

Richtig schlimme Begegnungen gibt es im Alltag des Sehbehinderten aber nur sehr wenige. Einmal habe ihm ein Passant den Taststock in zwei Stücke getreten und sei weggelaufen, erinnert er sich. Unvergessen bleibt zudem der Busfahrer der ihm – als er wie gewohnt vorne einsteigen wollte – die Türe vor der Nase zumachte und ihn im Regen stehen liess.

Munter durchs HB-Labyrinth

An seine Einschränkungen habe er sich längst gewöhnt, sagt Reto Frey. Er trauere der vergangenen Zeit nicht nach, sei zufrieden mit dem selbstständigen Leben, das er trotz seiner Sehbehinderung führt. Den Alltag zu Hause und bei der Arbeit meistert er problemlos. Nicht zuletzt dank diverser blindenspezifischer Geräte, Computerprogramme und Handy-Apps. Auch auf bekannten Wegen durch Zürich bewegt sich Frey recht selbstbestimmt. Nicht einmal im unterirdischen Labyrinth des Hauptbahnhofs ist er verloren. Weniger jedenfalls als seine Begleiterin, die sich in diesen Gefilden regelmässig verirrt. So lotst denn der praktisch Blinde die Sehende munter durch Hallen und Gänge zum Ziel, orientiert sich dabei an einem gut ausgebauten Bodenleitsystem mit hellen Leitlinien, unterschiedlichen Belagsmaterialien, Hell-Dunkel-Kontrasten, findet den gesuchten Gleiszugang durch Abzählen der entsprechenden Markierungen, vergewissert sich anhand taktiler Beschriftungen auf den Treppengeländern, dass er am richtigen Ort ist.

Draussen auf der Strasse helfen Wasserrinnen, Trottoirkanten, Mauern, Grünstreifen und andere bauliche Elemente bei der Orientierung mit dem Taststock. Und natürlich auch das Gehör. Dieses ist besonders gefordert, wenn es darum geht, eine Strasse zu überqueren. Bei Regen ist dies für den Sehbehinderten einfacher. Am typischen Reifengeräusch auf nassem Asphalt hört er auch jene Fahrzeuge herannahen, die sonst für ihn gefährlich leise sind. «E-Velos fürchte ich am meisten», sagt Frey. «Sie kommen nicht nur leise daher, sondern oft auch sehr schnell.»

Stolperfallen auf dem Trottoir

An stark frequentierten Strassenübergängen mit Ampelanlage zeigen akustische oder taktile Signale den Sehbehinderten an, wann sie loslaufen können. Trotzdem erlebe er immer wieder prekäre Situa­tionen, erzählt Frey. Zum Beispiel wenn Velos bei Rot durchfahren. Zu einem Unfall sei es aber glücklicherweise noch nie ­gekommen.

Doch Gefahren lauern auch auf dem Trottoir. Etwa Werbetafeln von Geschäften, die in den Gehbereich ragen und natürlich die vielen rücksichtslos abgestellten E-Trottinetts. Diese Wildparkiererei ist für viele ein grosses Ärgernis. Insbesondere aber für Menschen, die nicht gut ­sehen. Einmal sei er ganz böse über ein solches Trotti gestürzt, erzählt Frey. Es habe mitten im Eingangsbereich einer Apotheke gestanden, die er besuchen wollte. «So schlimm bin ich überhaupt noch nie gestürzt!», stöhnt er. «Mein ganzes Gesicht war zerschlagen.»

Immerhin: Für Reto Frey und viele andere gibt es Aussicht – oder zumindest Hoffnung – auf Besserung des bekannten Problems. Vor kurzem hat der Schweizerische Blinden- und Sehbehinderten­verband nämlich gemeinsam mit zwei E-Trottinett-Anbietern eine breite Sensibilisierungskampagne für mehr Rücksichtnahme beim Gebrauch der E-Trottis lanciert.

Mehr Infos zu den Anliegen von Blinden und Sehbehinderten inklusive einfacher Verhaltenstipps für Sehende: www.blind.ch (Schweizerischer Blindenbund) und www.sbv-fsa.ch (Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband).