Auch du, Tochter Helvetia!

Erstellt von Isabella Seemann |
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Am 7. Februar 1971 legte die Mehrheit der Schweizer Männer an der Urne ein Ja für das Stimm- und Wahlrecht für Frauen ein. Dafür haben unzählige Frauen, und auch Männer, Jahrzehnte lang gekämpft. Hier kommen elf Frauen der Goldküste zu Wort, die diesen historischen Moment erlebt haben.

Der 7. Februar 1971 gilt als eines der bedeutendsten Daten in der Geschichte der Schweiz. An diesem historischen Abstimmungssonntag vor 50 Jahren haben die Schweizer Männer mit 621 403 Ja gegen 323 596 Nein den Frauen das Stimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer Ebene gewährt. Damit war nach gut einem halben Jahrhundert hartnäckiger Auseinandersetzungen eine Bastion gefallen. Die Schweizer Frauen hatten den Sieg über die Männer davongetragen oder vielmehr: Die Männer hatten den Sieg über sich selber errungen.

Der Durchbruch gelang paradoxerweise mit einer Niederlage: Zwölf Jahre zuvor, am 1. Februar 1959, als zum ersten Mal über das eidgenössische Frauenstimmrecht abgestimmt wurde, hatte der männliche Souverän mit demselben Stimmenverhältnis, mit dem er 1971 zustimmte (66,9 gegen 33,1 Prozent), dem Frauenstimmrecht eine deutliche Abfuhr erteilt. Der nächtliche Fackelzug, den die Frauen in Zürich vor dieser Abstimmung zur Demonstration ihrer Anliegen einsetzten, wurde von da an als Gedenkmarsch jeden 1. Februar wiederholt und der 1. Februar zum Tag des Frauenstimmrechts erklärt. Im selben Jahr stimmten welsche Kantone dem Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene zu – der Prozess war in Gang gesetzt.

Das letzte und das erste Land

War die Schweiz – neben Liechtenstein – das letzte europäische Land, das die politische Gleichberechtigung einführte, so war es im 19. Jahrhundert eines der ersten, in dem diese Fragen ernsthaft debattiert wurden. 1833 trat der Stäfner Radikalliberale Johann Jakob Leuthy in seiner Zeitschrift «Das Recht der Weiber» für die bürgerlichen und politischen Rechte der Frau ein und stellte damit die Frauenfrage zur Diskussion: «Hat der Mensch das Recht, frei zu seyn? Sind die Weiber auch Menschen? Und haben sie daher ein gleiches Recht, frei zu seyn?» Seine Antwort war ein fast schon unbedingtes Ja – eine Auffassung, die er allerdings mit den wenigsten seiner Zeitgenossen teilte.

Zürcherinnen aber griffen die Argumentation wieder auf und forderten von den Vätern der kantonalen Verfassung von 1869 die «Wahlberechtigung und Wahlfähigkeit für das weibliche Geschlecht in allen sozialen und politischen Angelegenheiten» zu berücksichtigen. Der Chancenlosigkeit solcher Begehren bewusst, begannen sich Schweizer Frauen in den zahlreich und rasch gegründeten Frauenvereinen zu organisieren, um ihre Anliegen bekannt zu machen. Das 1874 neu eingeführte Referendumsrecht nötigte den Bundesrat, bei der Erarbeitung von Gesetzesentwürfen gegnerische Argumente zu berücksichtigen und Organisationen miteinzubeziehen – eine bis heute angewandte Praxis.

Am einflussreichsten waren die bürgerlichen Frauenorganisationen, die zwar den Einbezug der Frauen in die öffentliche Debatte propagierten, jedoch nur für so genannte weibliche Belange wie: Hausarbeit, Erziehung, Sittlichkeit und Wohlfahrt. So sollte für Frauen das passive Wahlrecht in Schul- und Armenkommissionen eingeführt werden. Die Macht sollte beim Mann bleiben, die Ausführung an die Frau übergehen. Für linke Frauen wiederum stand der Kampf für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen im Vordergrund.

Seite an Seite

Im Schweizerischen Verband für Frauenstimmrecht (SVF), der 1909 durch den ­Zusammenschluss lokaler Stimmrechtsvereine auf nationaler Ebene entstand, kämpften Frauen aus der Arbeiterinnenbewegung gemeinsam mit Frauen aus der bürgerlichen Frauenbewegung schliesslich Seite an Seite für das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Den ersten Vorstoss in Sachen Frauenstimmrecht machte am 4. Dezember 1918 der
sozialdemokratische Zürcher Nationalrat Herrmann Greulich. Der Bundesrat wurde eingeladen zu prüfen, ob «nicht Bericht und Antrag einzubringen sei über die verfassungsmässige Verleihung des gleichen Stimmrechts und der gleichen Wählbarkeit an Schweizer Bürgerinnen wie an Schweizer Bürger». Der freisinnige Nationalrat Emil Göttisheim brachte eine ähnliche Motion ein, in der er auf die Pflichten der Frauen verwies: Mit ihrer Stimme sollten sie zum Wohle der Gesellschaft beitragen. Die Motionen landeten ebenso wie die nachfolgenden Petitionen in der legendären Schublade des Bundesrats. Aber der Funke sprang weiter.

Krieg gab den nötigen Auftrieb

Auftrieb erhielt das Anliegen durch das internationale Geschehen. Im Zuge der staatlichen und verfassungsmässigen Neuordnungen erhielten Frauen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in mehreren europäischen Ländern das Wahlrecht. Die Schweizerinnen erwarteten, nicht zuletzt aufgrund ihrer Leistung während des Krieges, mit politischen Rechten entschädigt zu werden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hoffte eine wachsende Zahl von Frauen, für ihren geleisteten Einsatz für das öffentliche Wohl im Gegenzug endlich die politischen Rechte zu erhalten. Doch der Druck in der Schweiz, die von beiden Weltkriegen verschont blieb, war zu gering, um staatliche Einrichtungen neu zu organisieren.

Die Argumente der Gegner einer politischen und rechtlichen Teilhabe der Frauen an der Gesellschaft blieben über die Jahrzehnte hinweg ähnlich – und muten aus heutiger Sicht zuweilen irrwitzig an. 1959 war zu lesen: «Die Familie wird zerstört, die bürgerliche Gesellschaft bolschewisiert, die Schweiz durch den Frauenverein radikal trockengelegt, die Frau vermännlicht.»

Andere argumentierten, die Schweiz sei bislang auch ohne Frauenstimmrecht gut gefahren, besser als alle Nachbarstaaten. Frauen hätten eine Vorliebe für totalitäre Systeme, sie hätten Hitler an die Macht gebracht. Gegnerische Frauen standen den gegnerischen Männern in nichts nach: «Woher noch die Zeit zur Politik nehmen. Wer macht dann die Arbeiten zu Hause?»  In Inseraten gegen das Frauenstimmrecht im Kanton Zürich zur Abstimmung im November 1970 baten sie ihre Ehemänner, Väter und Brüder: «Wenn ihr es gut mit uns meint, dann bürdet uns nicht diese Aufgaben auf, die unserem Wesen nicht entsprechen.»

Nicht weniger als sieben Anläufe hatte der Kanton Zürich seit 1920 unternommen, um das Frauenstimmrecht einzuführen, sechsmal hatten die Männer abgewinkt, beim siebten Mal, am 14. September 1969, zog das Schreckbild der Suffragetten nicht mehr: Die Gemeinden wurden ermächtigt, das Frauenstimmrecht auf der kommunalen Ebene einzuführen. 67 Prozent sagten «den Frauen zuliebe – ein männliches JA». So zumindest hatte es im Vorfeld ein Werbeplakat, auf dem eine kräftige Männerhand einen Blumenstrauss hält, höflich erbeten.

Mit dieser Kampagne hat die Meilemer  Werberin Doris Gisler Truog, damals Mitinhaberin der Werbeagentur Gisler & Gisler, wesentlich zum Erfolg dieser und der nachfolgenden Abstimmungen zum Frauenstimmrecht beigetragen. «Den Männern das Frauenstimmrecht zu verkaufen, war mein Ziel», sagt die heute 93-jährige Grande Dame der Werbung. Sie sei als professionelle Werberin an die Sache gegangen. In der politischen Propaganda sei man gewohnt, im Zielpublikum einen Feind zu sehen – und so sehe diese Propaganda ja dann auch aus. «Aber ich liebte mein Zielpublikum. Es waren schliesslich die Schweizer Männer, wie wir sie nun einmal haben, mit denen wir leben: unsere Väter, Brüder, Ehemänner, Freunde.» Ihre Strategie: «Werbung muss verkaufen – nicht die Männer verunglimpfen.» Das Besondere an der Situation sei gewesen, dass sie jeden einzelnen Mann überzeugen sollten. In anderen Ländern wurde das Frauenstimmrecht parlamentarisch eingeführt. «Wir waren auf das Wohlwollen der Männer angewiesen.»

Am 15. November 1970 folgte die Einführung des Frauenstimmrechts im Kanton Zürich – und am 7. Februar 1971 in der ganzen Schweiz. Die Nachricht sorgte für Schlagzeilen in der ganzen Welt: «Auch du, Tochter Helvetia!» Doch zur Häme über die späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz sei vermerkt: Das Wahlrecht für Männer und Frauen in den Staaten mit repräsentativer Demokratie gibt es zwar seit langem. Das in der Schweiz seit nun 50 Jahren praktizierte Erwachsenenstimmrecht gibt es aber nur in der direkten Demokratie.