«Bei der Depotplanung musste ich eingreifen»

Erstellt von Lorenz Steinmann, Pascal Turin |
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Seit gut 100 Tagen ist Marco Lüthi Direktor der Verkehrsbetriebe Zürich. Im Interview erzählt der 44-Jährige, wo er eingreifen musste im Betrieb mit über 2500 Mitarbeitenden, was er dem Tempo-30-Regime Gutes abgewinnen kann und wie er die Mitarbeiterzufriedenheit verbessern will.

Marco Lüthi, Sie waren knapp zwei Jahre Direktor der Sihltal-Zürich-Uetliberg- Bahn (SZU). Wollen Sie länger bleiben bei den Verkehrsbetrieben Zürich (VBZ)?
Definitiv. Der Wechsel war nicht geplant. Ich hatte ein supertolles Team und spannende Aufgaben.

Trotzdem wechselten Sie. Warum?
Hier kann ich grössere Themen angehen, auch nationale, verkehrspolitische Anliegen. Das war bei der SZU nicht der Fall.

Ihre beruflichen Sporen abverdient haben Sie sich bei der Rhätischen Bahn (RhB) im Kanton Graubünden. Keine Sehnsucht mehr nach dieser beliebten Gebirgsbahn?
Ich war Leiter Unternehmensentwicklung und damit Stellvertreter des Stabs- und Personalchefs auf Stufe Geschäftsleitung. Meine Aufgabe als rechte Hand des Direktors war vor allem, den Modernisierungsprozess des alten Rollmaterials der RhB voranzutreiben sowie als Verkehrsingenieur die Vielzahl von Doppelspurabschnitten zu planen. Ich durfte in Chur meine heutige Frau kennen lernen, sie ist mir sogar ins Unterland gefolgt (lacht).

Und nun wohnen Sie in Zürich?
Wir mussten schnell etwas finden. Fündig wurden wir in Birmensdorf. Ähnlich wie in Chur ist man in Birmensdorf schnell in der Natur.

Wie kommen Sie denn zur Arbeit nach Altstetten?
Natürlich mit dem ÖV. Bis ins Triemli nehme ich die «Konkurrenz», das Postauto. Von dort fahre ich mit dem Bus von uns nach Altstetten, oder dann mit dem Tram via Kalkbreite. Ich benutze den ÖV täglich.

Sie haben Abschlüsse der Universität St. Gallen und der ETH. Können Sie auch Bus fahren oder ein Tram lenken?
Nein, das kann und will ich nicht. Dafür braucht es Profis und ich würde es fast ein wenig despektierlich finden. Ich hatte früher den Pilotenausweis. Wenn man etwas richtig machen will, dann muss man es seriös machen. Ein bisschen Tram oder Bus fahren wäre gefährlich.

Dann fliegen Sie auch nicht mehr?
Nein, das habe ich während meiner Studienzeit gemacht. Man muss viel fliegen, um es seriös und sicher zu machen. Mein Motto: Entweder mache ich es richtig oder ich lasse es sein.

Sind Sie denn neben einem Flugplatz aufgewachsen, oder wie kamen Sie zur Fliegerei?
Ich bin neben dem Verkehrshaus in ­Luzern aufgewachsen. Dadurch habe ich multimodale Verkehrserziehung erfahren (lacht). Dazu war mein Vater Eisenbähnler. Eigentlich war ich also näher bei den Bahnen. Ich kam aber bei der militärischen Pilotenvorschulung relativ weit und das konnte ich dann zivil nutzen.

Ihr Vorgänger Guido Schoch verstand sich nicht so gut mit dem Zürcher Verkehrs­verbund (ZVV). Wie ist Ihr Verhältnis zum ZVV, der ja fast alle finanziellen Entscheidungen der VBZ absegnen muss?
Das ist tatsächlich eine spezielle Kombination mit oft unterschiedlichen Haltungen zwischen Stadt und Kanton. Diese wirken sich dann auf den ZVV und die VBZ aus. Wir müssen Lösungen suchen, obwohl wir wissen, dass die Rahmenbedingungen oft kaum Lösungen zulassen. Ich versuche, mit Zahlen und Fakten unsere Situation aufzuzeigen.

Beim ZVV hat, wie auch bei den VBZ, ein Wechsel bei der Führung stattgefunden.
Persönlich kenne ich den neuen ZVV-Direktor Dominik Brühwiler gut. Wir haben an der ETH im gleichen Institut gearbeitet, zeitlich aber nicht zusammen. Uns ist bewusst, dass ein Konsens wegen übergeordneter Vorgaben schwierig ist. Menschlich streiten wir sicher nicht, inhaltlich werden wir in den Diskurs gehen müssen.

Haben Sie da Beispiele?
Die Tempo-30-Geschichte ist eine ganz schwierige Thematik. Der Stadtrat hat eine Haltung und der Kanton hat eine Haltung. Da ist die Schnittmenge sehr gering.

Müssten nicht Stadtrat Michael Baumer und Regierungsrätin Carmen Walker Späh (beide FDP) zusammensitzen?
Es ist eigentlich eine Ebene höher. Zuständig sind der Gesamtstadtrat und der Gemeinderat sowie der Kantonsrat auf der anderen Seite. Somit müssen sich die übergeordneten Parlamente einig werden, die uns die Rahmenbedingungen vorgeben.

Ist die Umsetzung von Tempo 30 im grossen Stil überhaupt möglich?
Der Stadtrat will dazu flankierende Massnahmen umsetzen, zum Beispiel vermehrt Eigentrassees für Tram und Bus. Doch auch das wird etwas kosten.

Glauben Sie wirklich, dass der Kanton die geforderten 70 Millionen bezahlt?
Es sind grobe Schätzungen. Und eben, über mögliche flankierende Massnahmen hat man noch nicht diskutiert. So könnten die Mehrkosten auch tiefer liegen. ­Einen Masterplan haben wir noch nicht. Die Mehrkosten beruhen darauf, wo ­Linien kippen, sprich, wo es mehr Fahrzeuge und Personal braucht. Wenn wir auf gewissen Strecken mit dem Tram weiter 50 fahren könnten, würde uns das ­helfen. Wenn wir dank Eigentrassees nicht im Stau stehen, hilft das zudem, ­Verlustzeiten zu minimieren.

Dann wünschen Sie sich also beispielsweise, dass auf der Hardturmstrasse, wo heute Tempo 30 gilt, das Tram weiter 50 fahren darf?
Das ist ein schwieriges Thema. Es würde ­sicher zusätzliche bauliche Massnahmen brauchen. Da sind wir momentan daran, das konkret zu erarbeiten.

Wie viele Strecken sind von den VBZ be­troffen, wenn Tempo 30 flächendeckend eingeführt wird?
Der Stadtrat spricht davon, dass auf dem grössten Teil der Strassen Tempo 30 gelten soll. Dazu soll es aber spezielle Gutachten geben. Die Gesamtplanung macht das Tiefbauamt, wir kommen relativ weit hinten. Wir können einfach aufzeigen, was der Mehrwert ist, wenn weiterhin Tempo 50 gilt auf VBZ-Trassees. Entscheiden muss schlussendlich aber der Stadtrat.

Ihr politischer Chef, Stadtrat Baumer, nannte die Forchstrasse als Knackpunkt.
Die Forchstrasse ist eine typische Ein­fallsachse. Dort ist ein Abwägen wichtig. Soll Tempo 50 für alle weiterhin gelten oder soll man dank flankierender Massnahmen dafür sorgen, dass die Forchbahn und wir weiterhin 50 fahren können als ÖV? Die dritte Variante wäre, dass alle nur noch 30 fahren dürfen. Was bedeutet dies finanziell, was bedeutet das für die Anwohner? Da muss man abwägen. Für jedes dieser Projekte gibt es jeweils eine Auslegeordnung.

Also schaut zuerst das Tiefbauamt die Strecken mit Ihnen an, erst dann werden sie ausgeschrieben?
Ja, so verstehe ich den Stadtrat.

Aber das kann Jahre dauern ...
Ja, deshalb will man auch etappiert vorgehen. Zuerst kommen die einfachen Strassenzüge, wo weniger Verkehrsteilnehmende betroffen sind und es weniger bauliche Massnahmen braucht.

Die Mehrkosten wegen Tempo 30 will man in Höngg einsparen, indem man die Buslinie 38 aufhebt. Könnte es wegen Tempo 30 einen weiteren Abbau geben?
Bei der Buslinie 38 wurden wir mit Tempo 30 vor vollendete Tatsachen gestellt. Dann wollte uns der ZVV die Mehrausgaben nicht finanzieren, weil die Linie 38 einen sehr tiefen Kostendeckungsgrad hat. Sehr schön finde ich nun, dass sich der Stadtrat zur Linie 38 bekannt hat. Er hat zumindest einen Überbrückungskredit in Aussicht gestellt, bis die Finanzierung geklärt ist.

Dann ist die Linie 38 also gerettet?
Wir gehen davon aus, dass die Linie 38 weiter bestehen bleibt. Schlussendlich entscheidet aber der Stadtrat. Immerhin hat der ZVV betont, dass er grundsätzlich keine Angebotsreduktion will. Angebotsabbau bedeutet immer auch einen ­Ertragsrückgang, und das will man nicht.

Wegen Corona sind die Einnahmen aber massiv zurückgegangen.
Corona bedeutet eine Zwischendelle. Wir gehen davon aus, dass wir 2024 wieder dort stehen, wo wir vor Corona waren. Dazu kommen prognostiziertes Bevölkerungs- und Arbeitsplatzwachstum in und um Zürich. Das Mobilitätsbedürfnis wird also nach all den Modellen steigen.

Hand aufs Herz: Wie teuer ist eigentlich das tägliche Im-Stau-Stehen? Das wäre doch eine Vollkostenrechnung analog der Diskussion um Thema 30, oder?
Die Frage ist berechtigt. Wir kennen zwar die Punkte mit Verspätungen, aber die Mehrkosten haben wir noch nicht untersucht. Der Verkehr ist historisch gewachsen. Stolz können wir auf unser weltweit bekanntes System mit der Lichtsignalbevorzugung für Trams und Busse sein. Das hat viele Verluste reduziert.

Die Rosengarten-Abstimmung inklusive Tramlinie ging verloren. Wie wollen Sie jetzt den Flaschenhals Central und Hauptbahnhof entlasten?
Wir arbeiten an einer Mobilitätsvision 2050. Es soll einen ÖV-Doppelring in und um Zürich geben. Mehr dazu sagen wir im Herbst. Später werden wir auf der Basis dieser Vision dann die Netzentwicklung ausarbeiten.

Und ein wenig konkreter?
Es sind oberirdische wie auch unterirdische Linien geplant. Und: Das Ganze ist abgestimmt mit der Stadt wie auch mit dem ZVV. Wichtig ist uns der multimodale Ansatz mit Bahn, Tram, Bus, Trottinett und Velo, damit die Quartiererschliessung noch besser wird. Das soll unser Beitrag für ein attraktives Zürich sein.

Am Central und am Bellevue stehen sich die VBZ oft selber im Weg.
Tatsächlich müssen wir die Peripherie stärken. Heute führen ganz viele Linien ins Zentrum und von da wieder weg. Künftig wollen wir Stadelhofen, Oerlikon und Altstetten besser einbinden. Dazu arbeiten wir eben an einem modularen Ringsystem. So muss man nicht mehr immer ins Zentrum kommen.

Bei einer neuen Umfrage der «Handelszeitung» («Beste Arbeitgeber Verkehr und Logistik») kam die RhB auf Rang 1, die VBZ lediglich auf Rang 14, noch hinter Eurobus. Was halten Sie von dieser Umfrage?
Ich weiss nicht, wie die Umfrage zu Stande gekommen ist. Wir möchten aber nahe bei den Mitarbeitern sein und schauen, dass die Zufriedenheit wächst. Das Thema Kommunikation zu den Mitarbeitern ist für mich sehr wichtig ebenso wie die Transparenz. Das habe ich schon bei der RhB und der SZU gesehen. So können die Mitarbeitenden Entscheide besser nachvollziehen.

Mussten Sie in Ihren ersten Wochen als neuer Chef bei den VBZ bereits irgendwo die Notbremse ziehen?
Normalerweise führe ich so, dass ich Verantwortung delegiere. So macht das Arbeiten für die Mitarbeitenden mehr Spass. Ich sehe das als Wertschätzung. Nur wenn es aus dem Ruder läuft, ziehe ich die Notbremse. Der erste Hemdknopf muss einfach sitzen.

Wo wurde mit falschem Zuknöpfen ­begonnen?
Wir müssen vermehrt schauen, dass die Fahrgäste wieder zurückkommen, sonst passt es finanziell nicht mehr. Und: Wir müssen in nächster Zeit viele Depots und auch die Zentralwerkstatt erneuern. So braucht es viel Abstellflächen für die Trams. Das ist noch nicht optimal aufeinander abgestimmt. Sonst gibt es Zusatzaufwand und zu viele Leerfahrten. Ein Knackpunkt sind auch die neuen Trams, die sich nicht mehr wie die alten auseinander koppeln lassen in den Depots. Zudem brauchen wir für immer mehr Elektrobusse Ladeeinrichtungen. Das braucht viel Vorlaufzeit.

Von der Gewerkschaft VPOD wird kritisiert, dass der Kanton die Einhaltung der Gesamtarbeitsverträge (GAV) zu wenig kontrolliert. So haben die VBZ auch schon Ausschreibungen verloren, etwa gegen die Limmat Bus AG, welche schlechtere Arbeitsverträge hat.
Die Limmat Bus AG hat auch einen Gesamtarbeitsvertrag. Wichtig ist das Bench­markmodell des ZVV, das die besonderen Gegebenheiten, etwa in der Stadt Zürich, berücksichtigt. Heute und morgen sind keine Ausschreibungen geplant, bei der Limmattalbahn sind die VBZ leider unterlegen. Uns ist wichtig, dass für unsere ­Mitarbeitenden gewisse Rahmenbedingungen eingehalten werden. Wir möchten dem Kanton die Vorteile eines GAV aufzeigen, damit wir bei einer künftigen Ausschreibung gleich lange Spiesse ­haben wie die Mitbewerber. Das wäre aber ein politischer Prozess, wir können da als VBZ keinen Einfluss nehmen. Uns ist wichtig, dass wir mit den Sozialpartnern gut ­auskommen.