Leere Gräber und Friedhöfe, die verwaisen: Die Stadt Zürich leidet unter akutem Gräberschwund. Innert der vergangenen 20 Jahre hat sich die Zahl der Gräber fast halbiert. Allein im Dezember wurden rund 3800 Gräber aufgehoben. Das Zürcher Bestattungswesen befindet sich in der Bredouille.
Die glorreichen Zeiten der Totengräber gehören der Vergangenheit an. In Zürich grassiert der Gräberschwund. Ein Streifzug über den Friedhof Sihlfeld, die grösste geschlossene Parkanlage der Stadt, offenbart Besuchern ein Bild weitläufiger mit Bäumen und Büschen gesäumter Grünflächen. Augenfällig wie ein Mahnmal zeugen sie von der beträchtlichen Zahl ungenutzter Gräber. Kein Einzelfall: Auch auf dem Friedhof Nordheim im Kreis 6 reiht sich eine leere Grabparzelle an die andere. Noch im Jahr 1980 gab es summa summarum 82 317 Gräber und Nischen auf den insgesamt 19 städtischen Friedhöfen. Doch dort, wo einst die Toten dicht an dicht beerdigt waren, ist nun vielenorts Gras darüber gewachsen.
So lag die Zahl der aktiven Grabstätten im Jahr 2000 bei 66 282. Seitdem sinkt der Bestand stetig, wie schon «Inside Paradeplatz» berichtete. Von unter 60 000 im Jahr 2005 auf weniger als 50 000 im Jahr 2013. 2019 dann fiel die Gräberzahl erstmals auf unter 40 000, lag 2020 schliesslich bei 38 254. Und das Gräbersterben schreitet weiter voran. Per Ende 2021 fiel der Gräber- und Nischenbestand auf de facto 35 661, wie Rolf Steinmann, Co-Leiter des Bestattungs- und Friedhofamts der Stadt Zürich, auf Anfrage von Lokalinfo erklärt.
Der Wandel in der Bestattungskultur ist auf den städtischen Friedhöfen, die mit einer Gesamtfläche von 1,28 Quadratkilometern fast dreimal so gross sind wie der Vatikan, allgegenwärtig. Steinmanns Prognose zufolge wird die Anzahl der Stadtgräber noch weiter einbrechen und sich dann «ab 2025 auf den städtischen Friedhöfen zwischen 33 000 und 35 000 Gräbern einpendeln». Innert 25 Jahren hätte sich der Gesamtgräberbestand somit geradezu halbiert.
Gemeinschaftsgräber im Trend
Beim Präsidialdepartement, dessen Vorsteherin Stadtpräsidentin Corine Mauch ist und bei dem die Zuständigkeit für das Bestattungswesen der Stadt Zürich liegt, weiss man um das akute Gräbersterben. Von 4155 Bestattungen im Jahr 2000 ist die Zahl innert 20 Jahren auf 3381 im Jahr 2020 zurückgegangen. «2021 waren auf allen städtischen Friedhöfen insgesamt über 91 000 Personen aktiv – in einembestehenden Grab – bestattet», sagt Präsidialdepartementssprecher Lukas Wigger zu Lokalinfo.
Die hohe Diskrepanz zwischen der Anzahl der Gräber und jener der Bestatteten ist unter anderem auf die Mehrfachbelegung von Gräbern zurückzuführen. So wurden im Jahr 2020 insgesamt 1271 Verstorbene in einem der 16 städtischen Gemeinschaftsgräber beigesetzt. Hinzu kommen Mehrfachbestattungen in Urnen-, Reihen- und Familiengräbern. Ein Blick auf das Bevölkerungsregister der Stadt Zürich zeigt: Alle 2 Stunden und 31 Minuten stirbt in Zürich ein Mensch. Im Coronajahr 2020 hatte die Stadt so insgesamt 3477 Tote zu beklagen.
«Aber nicht alle Verstorbenen lassen sich auf einem städtischen Friedhof bestatten», sagt der Stadtzürcher Co-Bestattungschef. Die Beisetzung kann auch auf einem anderen Friedhof im In- und Ausland erfolgen. Brisant: Rund jede 20. Urne wird laut Steinmann den Angehörigen übergeben. Für das Jahr 2020 bedeutet das, dass rund 170 Verstorbene ihre letzte Ruhestätte abseits der städtischen Friedhöfe fanden. Ohne aktiv genutzte Gräber verwaisen die städtischen Friedhöfe zunehmend.
Noch im Jahr 1910 herrschte in der Stadt mit 84 Prozent die traditionelle Erdbestattung auf einem Friedhof vor. Der Anteil der Kremationen hingegen lag gemäss «Der Tod in Zahlen», eine Publikation des Friedhof Forums Zürich, damals bei gerade mal 16 Prozent. Doch die Bestattungskultur hat im vergangenen Jahrhundert einen Umbruch erlebt. Aus der aktuellen Statistik des Bestattungs- und Friedhofamts der Stadt Zürich geht hervor: Immer weniger Menschen entscheiden sich für eine Erdbestattung. Bereits um die Jahrhundertwende, im Jahr 2000, waren über 75 Prozent aller durchgeführten Bestattungen Kremationen. Mit Blick auf die vergangenen Jahre ist dieser Wert weiter gestiegen.
Bestattungswesen in der Bredouille
Im Krematorium Nordheim, dem grössten Krematorium der Schweiz, wurden im Jahr 2021 insgesamt 7348 Tote eingeäschert. «Neun von zehn Verstorbenen lassen sich kremieren. Davon werden knapp 40 Prozent im Gemeinschaftsgrab beigesetzt», so der Stadtzürcher Co-Bestattungschef. Die Gründe dafür sind laut Steinmann vielfältig: Sie reichen von geringerer Bindungen zu den Religionen über kleinere Familienstrukturen bis hin zur gesellschaftlichen Individualisierung. Die augenscheinliche Trendwende vom Reihen- zum Gemeinschaftsgrab und von der Erd- zur Feuerbestattung brachte das städtische Bestattungswesen in die Bredouille.
«Seit Jahren steuert das Bestattungs- und Friedhofamt dieser Entwicklung mit einem attraktiven und zeitgemässen Gräberangebot entgegen», erklärt Steinmann. So gibt es in der Stadt Zürich 16 verschiedene Bestattungsarten. Nebst Urnenreihengräbern und Urnennischen gibt es auch ein Ehrengrab der Anatomie, wo die Urnen jener beigesetzt werden, die ihren Körper nach dem Tod zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt haben. Ebenso werden Gemeinschaftsgräber sowie diverse Themenmietgräber angeboten.
Vergangenen September wurde sodann auf dem Friedhof Nordheim das erste Mensch-Tier-Themengrabfeld auf einem kommunalen Friedhof in der Schweiz eröffnet. Weniger Gräber bei gleichbleibender Fläche bedeutet jedoch mehr Grünfläche. Diese zu bewirtschaften und zu pflegen, ist Aufgabe der Dienstabteilung Grün Stadt Zürich, die dem Tiefbau- und Entsorgungsdepartement der Stadt angegliedert ist und der der Unterhalt sämtlicher städtischer Grünräume obliegt.
Mehr Grünfläche, weniger Gräber
Die direkten Bewirtschaftungskosten der städtischen Friedhöfe lagen 2020 bei 15,42 Franken pro Quadratmeter. Bei einer Gesamtfläche von 1,28 Quadratkilometern ergibt sich so eine Summe von 19,74 Millionen Franken. Zum Vergleich: 2019 lagen die Kosten pro Friedhofsquadratmeter noch bei 14,26 Franken – sprich bei insgesamt 18,25 Millionen Franken. Trotz fallender Gräberzahlen sind die Bewirtschaftungskosten innert eines Jahres um 1,49 Millionen Franken gestiegen. Laut dem Sprecher von Grün Stadt Zürich, Marc Werlen, hat dies mit derCoronapandemie und damit einhergehenden Zusatzkosten für das Monitoring des Friedhofs Sihlfeld zu tun.
Des Weiteren haben sich die Kosten für die Bewirtschaftung der Friedhöfe laut Werlen auch dahin gehend geändert, da es «weniger Erträge von den Gebäudenutzungen» sowie «eine Verschiebung des Pflegeaufwandes» gibt, wobei der «allgemeine Pflegeanteil» grösser wurde. «Vor allem die weniger Platz benötigenden Beisetzungen im Gemeinschaftsgrab führen zu einer Friedhofüberhangfläche von 30 000 bis 50 000 Quadratmetern, die nicht mehr für Bestattungen oder Beisetzungen gebraucht wird», so Werlen. Aufgrund der steigenden Nachfrage nach Gemeinschaftsgräbern hat die Stadt ihr Angebot gemäss Werlen angepasst und wertet etwa Gemeinschaftsgräber auf oder erstellt neue, bei denen die Möglichkeit für eine Inschrift besteht.
Gräbersterben geht weiter
Trotz des breiten Angebots an unterschiedlichen Bestattungsmöglichkeiten dürfte der Exodus auf den Stadtzürcher Friedhöfen wohl nur schwer auszubremsen sein. Dennoch: «Die Stadt Zürich will die Friedhöfe erhalten, den speziellen Ort mit vielen Zeitzeugen der Zürcher Bestattungskultur sorgfältig pflegen und den Lebensraum Friedhof für Menschen, Pflanzen und Tiere schützen», so Präsidialdepartementssprecher Wigger.
Auch für das laufende Jahr rechnet das Stadtzürcher Bestattungswesen wegen «überdurchschnittlich vieler Grabaufhebungen im Vergleich zum langjährigen Durchschnitt» mit einem erneuten Rückgang. Allein im vergangenen Dezember wurden rund 3800 weitere Gräber aufgehoben. Das entspricht einem Gräberschwund um zehn Prozent verglichen mit dem Jahr 2020. Und so kämpft Zürich auch im neuen Jahr weiter gegen das grosse Gräbersterben an. Denn mag der Tod auch unausweichlich sein, so ist es die letzte Ruhestätte längst nicht mehr.