Das grosse Impfen ist jetzt in die Gänge gekommen

Erstellt von Daniel J. Schüz |
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Vor einer Woche noch eine Turnhalle, jetzt das Impfzentrum Meilen für den ganzen Bezirk. Der «Küsnachter» hat sich an den Eröffnungstagen des neuen Hot Spots für die Gesundheit umgeschaut und Inge Leuenberger aus Meilen auf ihrem Weg zur Impfung begleitet. «Ich habe gar nichts gespürt», meint sie nach der Impfung erleichtert. Auch sonst verläuft der Betrieb gut.

Ein eisiger Wind fegt über den Schulhausplatz in Meilen. An diesem Montagmorgen hat der launische April den Winter zurückgebracht.

Inge Leuenberger, 87 Jahre alt, zierlich, die Gestalt im dunklen Mantel, schütter das graue Haar unter der schwarzen Wollmütze, wach und freundlich die Augen hinter randloser Brille. Vor mehr als einem halben Jahrhundert ist sie aus der Nähe von Hannover nach Meilen gezogen, hat mit ihrem vor sieben Jahren verstorbenen Ehemann einen Sohn und eine Tochter aufgezogen und an der Kirchgasse in Meilen ein Näh- und Änderungsatelier geführt. Und mittlerweile sind drei der fünf Enkelkinder auch schon erwachsen. «Der Bub ist Gastronom und kennt sich mit Weinsorten  gut aus», sagt sie stolz, «und von den Mädchen arbeitet das ältere als Ärztin im Spital Uster – und das jüngere hat ein Jurastudium angetreten, aber bis heute noch keinen Hörsaal gesehen!»

Sohn hat sie angemeldet

Es war der Sohnemann, der Inge Leuenberger zur Impfung angemeldet hat, «dazu braucht es ja einen Computer», lacht sie. «Aber ich kenne mich nur mit Nähmaschinen aus.»

Jetzt steht sie seit zehn Minuten schon vor dem Gebäude, das noch vor einer Woche die Turnhalle beherbergt hat und mittlerweile zur meistbeachteten Immobilie im ganzen Bezirk geworden ist.

Die alte Frau fröstelt. Sie wollte nicht zu spät kommen. Hinter ihr hat sich eine Menschenschlange gebildet. «Nicht zu dicht aufschliessen», mahnt einer der jungen Männer, die in knallblauer Kantonspolizistenuniform das Absperrband bewachen. Das schmale Vordach über dem Eingang zum Impf-Zentrum des Bezirks Meilen kann nicht alle vor dem beissenden Nieselschnee schützen.

Punkt 10 Uhr öffnen sich die Schleusen. Inge Leuenberger ist an diesem Morgen Impfling Nummer eins. Und Impfling Nummer 575 seit der Eröffnung des Zentrums vor einer Woche.

Direkt zur Box A3

Maskenwechsel: Mit der Pinzette hält eine junge Frau die grüne Chirurgenmaske unter Inge Leuenbergers Nase. Handhygiene – unübersehbar steht der Desinfektions­mittelspender im Eingangsbereich. Aufnahmeritual: Am Empfangsdesk werden Krankenkassennummer und Identifizierungscode registriert. Die junge Frau hinter dem Bildschirm lächelt freundlich: «Grüezi Frau Leuenberger! Sie sind schon an der Reihe: Gleich links in der Box A3 wartet Frau Dubs auf Sie.»

Petra Dubs, 50, hat als medizinische Praxisassistentin ein halbes Leben lang spitze Nadel in die Haut gestochen. Mittlerweile hat sie ein Teilzeitpensum übernommen – und beschlossen, die neu gewonnene Freizeit sinnvoll einzusetzen – als eine von rund 50 medizinisch ausgebildeten Impfpersonen.

«Fühlen Sie sich gut?» Frau Leuenberger nickt lächelnd. «Hatten Sie in letzter Zeit bewusst Kontakt zu Personen, die mit Covid-19 infiziert sind?» Frau Leuenberger schüttelt den Kopf. «Sind Sie sicher, dass Sie gegen dieses Virus geimpft werden wollen?» Frau Leuenberger nickt heftig und freudig. Petra Dubs setzt die Nadel an, es dauert keine zwei Sekunden, und klebt das Pflästerchen auf die Einstichstelle. Das wars’auch schon. «Ich habe gar nichts gespürt!»

Vor dem Kabäuschen A3 wartet schon der nächste Impfling, während Stefan Reithaar die frisch geimpfte Inge Leuenberger in Empfang nimmt und in ein grosses Zelt führt. «Überwachung» steht wenig einladend auf einem grossen Schild über der Tür.

Als Allrounder ist Reithaar überall

Reithaar, 32 Jahre alt, gelernter Metzger und begeisterter Küsnachter, hat das Metzgermesser für immer in die Schublade gelegt und dafür die Mund-Nasen-Schutzmaske hinter die Ohren geklemmt. «Vor einem halben Jahr wurde ich vom Spital Männedorf als – wie sagt man so schön? – Allrounder angestellt und sorgte im Co-vid-19-Testzentrum für einen reibungslosen Ablauf der Testungen. Und hier im Impfzentrum mache ich so ziemlich dasselbe: Überall, wo Not am Mann ist, springe ich ein – von der Betreuung von betagten Menschen über die Aushilfe bei der Administration bis zum Transport der neuen Impfstoffdosen.» Die werden nahezu täglich angeliefert; sie müssen auf zwei bis acht Grad gekühlt und innerhalb von fünf Tagen verimpft werden. Der Stoff, aus dem die Träume von einer neuen Freiheit sind, liegt – gut versteckt und streng bewacht – hinter zwei verschlossenen Türen in zwei grossen Kühlschränken und wartet darauf, abgeholt, verdünnt, aufgezogen und injiziert zu werden.

Im Moment ist nur noch einer der beiden Kühlschränke mit Impfstoff bestückt. Rolf Gilgen holt eine Schachtel mit einem Dutzend Fläschchen heraus. «Wir müssen sehr sparsam damit umgehen», sagt der operative Leiter des Impfzentrums. Gilgen hat, bevor er vom Spital Männedorf beauftragt wurde, den Aufbau und den Betrieb des Zentrums zu leiten, als Direktor im Stadtspital Waid und im Regionalspital Bülach Erfahrungen gesammelt.

«Der Unterschied zwischen dem Management eines Spitals und eines Impf­zentrums liegt vor allem darin, dass die Leute selten freiwillig ins Spital gehen, ins Impfzentrum aber kommen sie aus freien Stücken – und wenn sie wieder gehen, sind sie glücklich und dankbar. Ansonsten ist es befriedigend, wenn man direkt mit Menschen zu tun hat – und immer wieder auch in der Lage sein muss zu improvisieren.»

Die Frage, wie lange es wohl noch dauert, bis die ganze Bevölkerung zur Impfung zugelassen und ein Ende des Corona-Albtraums absehbar sein wird, lässt den CEO des Impfzentrums schmunzeln: «Ich darf ja nichts Verbindliches sagen. Aber immerhin so viel steht fest: Es sieht ganz danach aus, dass wir im Mai richtig loslegen können.»

Unterdessen hat sich Inge Leuenberger auf einen Plastikstuhl gesetzt und lässt sich überwachen.

Grosse transparente Plastikwände teilen den Raum in einzelne Abteile auf, sodass die Wartenden untereinander den Abstand wahren und zugleich gut beobachtet werden können. Hans-Ulrich Kull, 82, ist einer der schichtführenden Ärzte. Er geht im Seitengang auf und ab und lässt keinen der frisch Geimpften aus den Augen. Es könnte ja sein, dass jemand die Impfung tatsächlich nicht vertragen hat, kollabiert und im extra dafür eingerichteten Emergency-Room, im Notfallraum, behandelt werden muss. In diesem Moment stürmt eine der Mitarbeiterinnen von der administrativen Verwaltung herein: «Hansueli, schnell, wir brauchen einen Arzt!»

Der Arzt, der 35 Jahre lang in Küsnacht eine Praxis geführt, in der gemeinderätlichen Gesundheitskommission Einsitz genommen hat und den Seniorenverein präsidiert, kommt wenige Minuten später wieder zurück: «Nix Schlimmes», grinst er. «Da hat wieder einmal jemand angegeben, er leide unter einer Penicillin-Allergie. Da gibt man ein Antiallergikum in Tablettenform und verlängert die Überwachung auf eine halbe Stunde.»

Pudelwohl entlassen

Nach einer Viertelstunde mag Inge Leuenberger nicht mehr länger überwacht werden. Sie fühlt sich pudelwohl, marschiert zur letzten administrativen Stelle und lässt sich das Papier aushändigen, das die erfolgreich vollzogene Covid-19-Impfung bestätigt – allerdings ohne Stempel und Unterschrift. Dieser amtliche Segen wird erst im Nachhinein erteilt, wenn die Politiker sich europaweit auf einen Modus geeinigt haben, der die Rechte geimpfter Personen regelt und international anerkannt wird. «Und das», schmunzelt einer der Impflinge im Raum, «kann noch lange dauern!»

Inge Leuenberger kümmert’s wenig. «Mir geht es nicht um irgendwelche Privilegien», sagt sie. «Ich will einfach nur sicher sein, dass keiner mich und ich niemanden anstecken kann.» Ansonsten gehe es ihr vor allem darum, weiterhin so viel und so weit laufen zu können. «Früher hatte ich einen Hund», erzählt sie. «Der hat mich überall hinbegleitet. Aber seit er weitergezogen ist, laufe ich halt alleine – jeden Tag. Manchmal nehme ich die Fähre nach Horgen und laufe zur Halbinsel Au – oder ich nehme den Zug zum Tiefenbrunnen. Von dort laufe ich bis zum Hauptbahnhof – immer am Wasser entlang und immer begleitet von den schönsten Bäumen. Ja, die Bäume liebe ich ganz besonders.»

Sie hat das ausgedruckte Impfzertifikat akkurat zusammengefaltet in ihre Handtasche gestopft. «Wissen Sie», sagt sie endlich, «wissen Sie, was das Wichtigste ist an dieser Impfung?»

«Nein, weiss ich nicht ...»

«Diese Impfung gibt mir die Zeit, die ich brauche, um vielleicht noch mal Urgrossmutter zu werden. Und deshalb müssen die drei Enkel jetzt vorwärtsmachen!»