Das Neubühl hat eine bewegte Geschichte

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Der pensionierte Journalist Emanuel La Roche lebt im Neubühl. Nächste Woche erscheint sein Buch zur einst visionären Überbauung.

Es ist eine idyllische Ecke der Stadt Zürich, am Rande Wollishofens. Hier wo sich die Ost- und Westbühlstrasse treffen, stehen die Häuser der Werkbundsiedlung Neubühl. Diese war in den Jahren 1930 bis 1932 erbaut worden. Initiiert hatte die Überbauung ein Kollektiv von jungen Architekten, darunter Max Ernst Haefeli, Werner Max Moser und Rudolf Steiger. Von ihnen stammen unter anderen das Hochhaus zur Palme am Bleicherweg, das Universitätsspital oder das Kongresshaus.

Noch heute wirkt die Siedlung, die von der Genossenschaft Neubühl getragen wird, modern. «Damals galt die Architektur aber als geradezu revolutionär», erzählt Emanuel La Roche. Der pensionierte Ausland-, Kultur- und Hintergrundredaktor des «Tages-Anzeigers» lebt seit vielen Jahren im Neubühl. Am kommenden Montag ist Vernissage seines neuen Buches «Im Dorf vor der Stadt».

Für den Mittelstand geplant
La Roche, der in der Nähe des Friedhofs Manegg aufgewachsen ist, wollte schon als Kind im Neubühl wohnen. «Es hiess immer, hier würden ‹etwas andere Leute› leben. Das hat mich fasziniert», erzählt der 77-Jährige. Gemeint waren junge Leute, Grafiker, Kunstmaler, Schauspieler, Musiker oder Architekten, welche von den modernen Flachdachbauten angezogen wurden.

Im Gegensatz zu heute, wo Genossenschaften wegen tieferer Mieten überrannt werden, wurde das Neubühl ursprünglich für den Mittelstand konzipiert. Die Wohnungen waren zu teuer für Arbeiter. Der Leerbestand war gross. Teilweise wurden grosse Objekte billiger vermietet, nachdem einzelne Zimmer zugesperrt worden waren. Es dauerte zehn Jahre, bis alle Wohnungen vergeben waren. Ganz anders heute: «Nun sind die Wartelisten lang», sagt La Roche.

Am Anfang hatte die Genossenschaft grosse Finanzprobleme. Die sogenannten freien Berufe wie Architekten, Rechtsanwälte, Zahnärzte und Künstler litten unter der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Viele Bewohner konnten ihre Mieten nicht mehr bezahlen. Zwischen 1933 und 1945 zogen zahlreiche politische Flüchtlinge, vor allem Sozialdemokraten, teilweise Kommunisten und Juden ins Neubühl. Sie profitierten von vergünstigten Mieten und beteiligten sich am genossenschaftlichen Leben. La Roche: «Besonders diese Kapitel verdeutlichen, wie stark die Weltgeschichte auf das kleine Dorf in Wollishofen wirkte.»
Die 193 Wohnungen und Reihenhäuser der Siedlung – im Jahr 2000 ist ein Neubau mit 28 Wohnungen hinzugekommen – gelten als wichtigste Wohnüberbauung im Stil des sogenannten «neuen Bauens». Besonders auffällig sind die lichtdurchfluteten Räume mit grossen Fenstern. Es gibt grosszügige Grünflächen zwischen den Flachdachbauten, die Architekten wollten mehr Raum für die Bewohnerinnen und Bewohner schaffen. Das war ein mutiger Gegensatz zu den damals üblichen Blockrandbebauungen mit ihren Innenhöfen. Seit 2010 steht die Überbauung unter Denkmalschutz.

In der Neuerscheinung geht es aber nicht in erster Linie um die Architektur der Siedlung, sondern um die Menschen, die dort lebten. Die Überbauung entstand auf der grünen Wiese an der Grenze zu Kilchberg und war quasi eine isolierte Insel. «Die Genossenschafterinnen und Genossenschafter hatten zum Teil ein ausgeprägtes Selbstverständnis als Bewohnende eines etwas speziellen Dorfes», erzählt La Roche. Erst mit den Jahrzehnten holte sie die Stadt ein. «Die Siedlung hat ihren dörflichen Charakter leider nur zu einem Teil erhalten können», sagt der studierte Historiker. Die Zeiten, als der Migros-Wagen vorbeikam, es einen Milchladen gab und eine Bäckerei aus der Innenstadt hier ihr Brot feilbot, sind lange vorbei.

Siedlung ist eine Besonderheit
Das Buch geht der Frage nach, weshalb es nicht gelang, die Wohninsel als «Dorf vor der Stadt» zu bewahren. «Ich erzähle die Geschichte vom Wert der Gemeinschaft und vom Zusammenleben der Menschen im Neubühl», sagt La Roche.

Heute, wo Zürich wegen des Bevölkerungswachstums immer dichter bebaut wird, wirkt das Neubühl wie eine Besonderheit. Kaum vorzustellen, dass hier einst drei dreizehnstöckige Hochhäuser geplant waren. (pw.)

Buchvernissage: Montag, 25. November, 19.30 Uhr. Blauer Saal Volkshaus (1. Stock). Platzreservation erwünscht (freie Platzwahl): info@volkshausbuch.ch oder 044 241 42 32.