«Der breite Königsweg ist die Sekundarschule»

Zurück

Stadtrat Filippo Leutenegger will auf einer Informationstour die Vorteile der Sekundarschule aufzeigen und Misserfolge am Gymnasium vermeiden. «Wir müssen mit unserem Schulsystem Erfolgserlebnisse vermitteln.»

Filippo Leutenegger, welcher Beruf hätte Sie interessiert, wenn Sie als Jugendlicher eine Lehre gemacht hätten?

Wahrscheinlich etwas Handwerkliches oder Pilot.

Stattdessen sind Sie ins Gymnasium gegangen und haben studiert. Weil man besser verdient?

Nein, das war kein Motiv. Es war Familientradition. Da ich in Rom als Auslandschweizer aufgewachsen bin, stellte sich die Frage, ob ich zur Ausbildung in die Schweiz sollte, und mein Vater schickte mich dann ins Internat der Klosterschule Disentis, die er selber schon besucht hatte.

Gibt es Gründe, weshalb Eltern, die selbst studiert haben, ihre Kinder in
eine Lehre schicken sollen?

Klar, die Eignung und die Neigung der Kinder. Zwei meiner Söhne und meine älteste Tochter absolvierten eine Lehre, die beiden jüngeren Kinder haben den gymnasialen Weg eingeschlagen.

Und, sind Ihre Kinder zufrieden mit der Lehre?

Sehr, sie haben alle einen tollen Job.

Was spricht denn für eine Lehre?

Man lernt arbeiten, das können viele Gymnasiasten und Uni-Absolventen noch nicht. Und wer sich nach einer Lehre weiterbildet, hat die beste Absicherung gegen Arbeitslosigkeit, sogar besser als bei einem Unistudium– und last, but not least intakte Karrierechancen.

Aber nicht für alle ist eine Lehre geeignet.

Logischerweise muss es in einem ausgeglichenen Verhältnis sein. Ich halte einen Anteil von 20 Prozent Gymnasiasten für ein gutes Verhältnis. Man erweist den Kindern aber keinen Gefallen, wenn man sie mit allen Mitteln in ein Gymi bringt und sie quasi durch die Matura «schleikt». Es gibt unterschiedliche Talente, und wir haben im Schulsystem die Aufgabe, jene Talente zu fördern, die vorhanden sind. Daher ist ein Gymnasium nur für einen Teil der Kinder der Königsweg. Der breite Königsweg ist die Sekundarschule mit einer anschliessenden Lehre.

Die Lehre ist eigentlich ein Knüller, dank ihr ist die Jugendarbeitslosigkeit sehr tief.

Genau, das hat einen direkten Zusammenhang.

Ganz anders in Ländern, die keine Lehre kennen ...

Wir müssen uns nur in der Schweiz umschauen: In der Ostschweiz haben wir eine sehr tiefe Arbeitslosigkeit bei den Jungen, weil Sek mit anschliessender Lehre der Normalfall ist. In Genf haben wir die höchste Gymnasialquote; ein Grossteil fällt wieder raus und landet unter Umständen zwischen Stühlen und Bänken. Ebenso im Tessin. Interessanterweise haben wir dort die höchste Jugendarbeitslosigkeit: in Genf und im Tessin. Das ist kein Zufall, diese Kantone verfügen über ein wenig entwickeltes Lehrstellenwesen.

Trotzdem wollen viele ins Gymi.

Etwas vom Entscheidendsten: Wir wollen den jungen Leuten und den Eltern unnötige Misserfolgsserien ersparen. Wenn Eltern ihre Kinder durchs Gymnasium peitschen, ist das oft ein Weg mit Misserfolgen. Im Leben eines jungen Menschen ist es wichtig, ob man mit einem Erfolg oder mit einem Misserfolg startet. Daher muss man die Eignung und die Neigung wirklich seriös anschauen.

Lernschwache, Migranten und Hochbegabte gehen heute in dieselbe Klasse.

Meiner Erfahrung nach nützt Durchmischung leider nicht immer denjenigen, die am meisten Nachholbedarf haben. Wenn man oft das Schlusslicht ist, hat man Misserfolgserlebnisse. Wir müssen mit unserem Schulsystem Erfolgserlebnisse vermitteln können. Grundsätzlich ist es richtig, die Integration anzustreben, aber leider gelingt es nicht immer.

Werden nicht die guten Schüler nach unten gezogen? Das könnte von der Sek abschrecken.

Aufgrund unserer Erfahrungen und Auswertungen im Schulamt ist das nicht so. Spätestens in der Sekundarstufe sind die Leistungselemente vorhanden. Wir müssen dafür sorgen, dass die Sek nicht geschwächt, sondern gestärkt wird. Das heisst, wir brauchen gute Schülerinnen und Schüler, sonst wird die Sek zum Abstellgleis. Im Schulkreis Züriberg, in dem ich lebe, sind die Kinder kaum viel gescheiter als an anderen Orten, aber sie werden oft gepusht. Das führt dazu, dass die halbe Klasse ins Gymi geht, und diejenigen, die in die Sek gehen, fühlen sich als «Loser». Das ist verheerend. Sie sind aber keine «Loser», das sind gute Schüler und Schülerinnen, die müssen wir in der Sek behalten. Und wir müssen den Eltern zeigen, welche grossen Chancen die Sek mit anschliessender Lehre bietet.

Mit einem Verweis auf Genf …

… und gar nicht zu reden von anderen Ländern, dort lassen sich zum Teil keine gut qualifizierten Leute finden, auch im handwerklichen Bereich – aber dafür umso mehr arbeitslose Akademiker. Wir haben eine super funktionierende Wirtschaft, weil wir super Berufsleute haben. Die Lehrstellen sind hervorragend, auch wir in der Stadt Zürich bemühen uns sehr darum, wir bilden rund 1250 Lernende aus. Ich wünsche mir, dass noch mehr Lehrstellen in Zukunftsbranchen wie IT geschaffen werden. Da benötigen wir dringend qualifiziertes Personal, nicht nur Hochschulabsolventen.

Könnte man die Sek stärken, indem man das Langzeitgymnasium abschafft, sodass man erst nach der zweiten oder der dritten Sek ins Gymi wechseln kann?

(Vehement.) Nein, nein, das müssen wir nicht abschaffen. Aber der Anteil Kinder, die ins Langzeitgymi gehen, ist nach meiner Ansicht zu hoch. Heute wechseln in der Stadt Zürich rund 20% von der sechsten Klasse ins Langzeitgymi, während von der zweiten Sek nur knapp 6% ins Kurzzeitgymi übertreten. Das ist aus meiner Sicht kein gesunder Anteil, man sollte das Verhältnis Langzeit- zu Kurzzeitgymi auf etwa halbe-halbe bringen. Dann haben Kinder vermehrt eine Chance, vorher eine Schnupperlehre zu machen und zu erfahren, wie die Arbeitswelt aussieht. Nach der zweiten Sek können Jugendliche besser entscheiden, ob sie eine Lehre machen oder den gymnasialen Weg einschlagen wollen.

Wie könnte man das steuern? Der Trend geht völlig in die andere Richtung.

Ich weiss. Darum machen wir eine Informationskampagne. Und wir versuchen in der Stadt Zürich, die Schnupperlehren attraktiver und einfacher zugänglich zu machen. Eigentlich sollte es schon ab der sechsten Klasse möglich sein, erste Einblicke in die Berufswelt zu erhalten.

Gibt es schon konkrete Pläne?

Nein. Aber nach eineinhalb Jahren als Schulvorsteher denke ich, dass man sich Formate für die sechste Klasse überlegen müsste, damit auch die Kinder, für die die Eltern das Langzeitgymi «vorprogrammiert» haben, mit der Arbeitswelt in Berührung kommen.

Da müsste die Wirtschaft Hand bieten.

In handwerklichen Berufen findet man relativ gut Schnupperlehren. Unter 13 Jahren ist eine klassische Schnupperlehre arbeitsrechtlich untersagt, aber vielleicht findet man neue Formen im Sinne von Betriebsbesichtigungen oder im Rahmen von Infoveranstaltungen oder Berufserkundigungen.

Wie wollen Sie den Zugang zu Schnupperlehren verbessern?

Wir sind daran, entsprechende Plattformen zu unterstützen, um die Schnupperlehren näher an die Schule, an die Schülerinnen und Schüler und an die Eltern zu bringen, denn die Schnupperlehre ist der Einstieg in die Arbeitswelt. Und wir müssen den Eltern aufzeigen, welche Karrieren möglich sind. Zudem sind ein guter Spengler, eine gute Elektrikerin oder ein top ausgebildeter Pflegefachmann in jedem Land gefragt.

Sie gehen nun auf Werbetour, um die Sek als gute Alternative zum Langzeitgymnasium anzupreisen.

Nicht als Alternative. Wir wollen zeigen, dass die Sek für die allermeisten Schülerinnen und Schüler ebenfalls ein Königsweg ist. Und wenn man nachher eine Berufsmatura machen möchte, stehen alle Wege offen.

Die Lehre gilt nach Bologna-Massstab nichts, und höhere Fachschulen geben keine Credits. Müsste die Schweiz nicht da ansetzen, um den Wert der Lehre und der Weiterbildung zu steigern?

Ja, da bin ich völlig einverstanden, da hat der Bund nicht gut verhandelt. Im Bereich der internationalen Anerkennung haben wir sicher noch Verbesserungspotenzial. (Interview: Thomas Hoffmann und Lorenz Steinmann)

Infoabende über Sekundarschule

Unter dem Titel «Chance Sek» lädt das Schul- und Sportdepartement zu drei Informationsabenden ein. Der Anlass mit Stadtrat Filippo Leutenegger (FDP), Chef des Schul- und Sportdepartements, richtet sich an Eltern mit Kindern in der Mittelstufe und weitere Interessierte.

Zuerst zeigen Input-Referate Fakten, Zahlen und Vorurteile auf. Es folgt eine halbstündige Podiumsdiskussion mit Eltern, Jugendlichen, Schulleitung und Laufbahnberatern, dann ist die Runde offen für Fragen aus dem Publikum. Während eines Apéros kann man sich danach an Ständen über Begabungsförderung in der Sek, Laufbahnberatung, Elternmitwirkung und mehr informieren. Die Anlässe sind gratis.

• Mittwoch, 20. November, 17.30 bis 20 Uhr, Schule Leutschenbach, Saatlenfussweg 3.
• Donnerstag, 28. November, 17.30 bis 20 Uhr, Schule Albisriederplatz, Norastrasse 20.
• Donnerstag, 9. Januar 2020, 17.30 bis 20 Uhr, Schule Hirschengraben, Hirschengraben 46.