Der Osterhase und die geizige Tante

Erstellt von Bruno Schlatter-Gomez |
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Ostern stand vor der Türe. Und der 12-jährige Rolf fluchte vor sich hin, als er mit dem schweren Rucksack am Rücken an diesem sonnigen Karfreitag in den Zug stieg. Wie hasste er die Fahrt nach Basel zu der alten Tante seiner Mutter. Er ­verfluchte den Tag, als seine Mutter die Grippe hatte und sein Vater meinte: «So, Rolf, du bist jetzt alt genug, um mit dem Zug von Zürich nach Basel zu fahren.» Alle Einwände nützten nichts. Rolf stellte sich zwar dümmer an als er wirklich war, gab zu bedenken, wie gefährlich so eine ­Zugfahrt allein sei und wie er sich im komplizierten Bahnhof von Basel verlaufen würde. Doch der Vater konterte dem 12-Jährigen lachend:  «Wenn du ins Kino oder in die Stadt nur wegen eines Hamburgers willst, gehst du auch selbstständig, und das ist ebenso gefährlich wie eine Zugfahrt am helllichten Tag nach Basel zu deiner Tante.» So brachte Rolf halt der alten Frau einen grossen Rucksack voll Esswaren nach Basel.

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Die Tante war geizig und schrullig, und Rolf hatte auch schon respektlos gemeint: «Der fehlt eine Schraube.» Aber seine Mutter hatte nun einmal vor Jahren begonnen, der alten Dame bei ihren Besuchen Esswaren, alte Romane und ab und zu eine Flasche Wein zu bringen. Und das wurde zur Gewohnheit, bis es der Mutter zu dumm wurde und sie anfing, der alten Tante ein Päckli mit der Post zu schicken. Was die undankbare alte Dame aber postwendend ungeöffnet wieder zurückschickte. Sie war beleidigt. Sie wollte nicht nur die Esswaren, nein, für sie war auch der Besuch wichtig. So fuhr Rolf an Stelle seiner kranken Mutter nach Basel. Und weil ihm sein Vater ans Herz gelegt hatte, mit der alten Dame nett zu sein und sie etwas zu unterhalten, vor allem aber, weil er Rolf heimlich noch ein Zehnernötli zusteckte, gab sich der Junge mit der Tante grosse Mühe. Zu grosse, wie sich bald herausstellte, denn als die Mutter wieder gesund war, meinte die alte Dame: «Schick mir doch wieder den Rolfli, du hast es doch sicher streng, er ist so ein netter Junge.» Dem Rolfli gab es fast etwas, aber alles Schimpfen, alle Ausreden halfen nichts, die regelmässige Fahrt nach Basel blieb an ihm hängen. Für die Mühe bekam er vom Vater eine Sackgelderhöhung, die den Ärger etwas linderte. Von der Tante aber bekam er immer dasselbe, ein kleines, liebevoll eingepacktes Päckli «Basler Läckerli». Ungeöffnet schenkte er es aber immer weiter, mal der Mutter, mal dem Vater und auch schon an eine Schulkollegin. Dass er es sogar einmal im Zug liegen liess, sei nur nebenbei erwähnt. Rolf wusste, dass die Basler Spezialität zwar berühmt und auch nicht billig war, aber trotzdem ärgerte ihn das kleine ­Geschenk jedes Mal etwas mehr.

Er hätte lieber das Geld gehabt. Obwohl sie als reich galt, hatte die Tante überhaupt kein Musikgehör. Ein Fünf­liber wäre ein Fünfliber gewesen. Aber nichts dergleichen. Immer wieder das kleine Päckchen mit den «Basler Läckerli».
Der Zug war fast leer und Rolfs Rucksack voll von Aufmerksamkeiten für seine Tante. Darunter ein Eierlikör und Pralinen vom Sprüngli und das gewünschte Buch. Schon vor der Türe ahnte der Bub Schlimmes. Er hörte lautes Lachen, als ob eine Party im Gange war. So war es auch! Ja, er musste an dem kleinen Tisch Platz nehmen und mit zwei Freundinnen von der Tante Kaffee trinken und Kuchen essen, und, was er besonders peinlich fand, «Eiertütschen». Aber Rolf fand auch, dass er seine Tante selten so fröhlich und gut gelaunt erlebt hatte. Als etwas später die fröhlichen Damen zum Sekt übergingen, gelang es Rolf mit viel Diplomatie, zu entkommen. An der Türe umarmte die Tante den Bub und sagte: «Hier Rolfli, noch deine ‹Läckerli›, die du so gerne hast, und noch ein Schoggihäsli.»

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Den kleinen Schoggihas hatte er, kaum sass er im Zug, gegessen. Aber die Schachtel mit den «Läckerli» steckte er, gar nicht begeistert, in seinen Mantelsack. Während er durch das Fenster den Sonnenuntergang betrachtete, wurde Rolf plötzlich aufgeschreckt. «Ist hier noch ein Platz frei?», fragte eine brüchige Stimme. Ein alter Mann schickte sich an, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Mit seinem langen, schwarzen, abgeschabten Mantel und ­seinem grauen Bart sah er geradezu unheimlich aus. Und als Rolf erst die ­stechenden Augen sah, die unter den ­buschigen Augenbrauen hervorblitzten, war ihm gar nicht mehr wohl in seiner Haut. Er erschrak richtig, als der Alte plötzlich fragte: «Wie alt bist du?» – «Bald dreizehn», war die knappe Antwort. Unaufhörlich fragte der Alte weiter und Rolf gab artig Antwort. Je länger das Gespräch dauerte, desto mehr verlor der Bub die Scheu vor dem Reisegenossen. Es war dem Jungen klar, dass er mit einem Landstreicher, einem Clochard, in den Zug geraten war. Als der Alte von seinem Gefängnisaufenthalt zu erzählen begann, griff Rolf instinktiv zu seinem Portemonnaie. Fast schämte er sich ein wenig ob so viel Misstrauen. «Bald kommt Baden, da steig ich aus», brummte der Mann, schwieg ­einige Sekunden und fuhr mit sanfter, nachdenklicher Stimme fort: «Pass auf dich auf, du hast noch das ganze Leben vor dir.» Er murmelte noch recht freundlich die Worte: «Ich wünsche dir ein frohes Osterfest.» Jetzt glaubte Rolf, einen traurigen Blick in den sonst so stechenden Augen zu sehen. Spontan fragte Rolf den Mann: «Haben Sie gern ‹Basler Läckerli›?» Der Junge streckte die ‹Läckerli› dem Mann entgegen. Dieser zögerte einen Moment. «‹Basler Läckerli›, seit Jahren habe ich keine mehr gegessen, das waren einmal meine Lieblingsguetsli, die gab’s als Kind bei uns manchmal zu Hause.» Rolf streckte ihm die hübsch in rotem, glänzendem Papier eingepackte «Läckerli»-Schachtel erneut entgegen und meinte: «Wissen Sie, ich habe sie nicht so gerne.» Fast schroff nahm dieser das Päcklein und verliess mit einem knappen Dank und einem ­erneuten, kaum mehr hörbaren «Schöne Ostern» den Zug. Nachdenklich sah Rolf noch lange dem alten Mann nach.

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Am Sonntagnachmittag feierte die ganze Familie am festlich gedeckten Tisch mit Canapés, Kuchen, Kaffee, Tee und ja, auch einem kühlen Weisswein, das Osterfest. Da läutete das Handy von Rolfs Vater. Alle waren erstaunt, dass es die alte Tante aus Basel war, schroff den Rolfli verlangte. Dieser nahm ratlos das Telefon ans Ohr, und schon legte die Tante los: «Rolf, ich hätte mindestens einen Anruf und einen Dank von dir erwartet für die Basler ‹Läckerli›», schimpfte die alte Dame. «Wenn ich dir schon ein Hunderternötli dazulege.»

Rolf glaubte, sich verhört zu haben, er bekam weiche Knie. «Hundert Franken, das ist doch wahrlich ein bäumiger Osterhase und sicher ein Dankestelefon wert», wetterte die Tante weiter. Rolf stammelte etwas von grosser Freude und herzlichem Dank und dass er es vor Aufregung vergessen habe. Dem guten Rolf blieb nichts anderes übrig, als den Vorfall im Zug mit dem Landstreicher und die verschenkten «Basler Läckerli» der Familie zu erklären. «Hundert Franken einfach verschenkt», lachte der Vater, «das ist ja nicht zu glauben.» Rolf hätte heulen können, und sein Vater lachte. «Der Mann wird Augen machen, wenn er das Päcklein öffnet.» – «Wahrscheinlich eine unerwartete Osterüberraschung», sagte die Mutter. Etwas später meinte der Vater nachdenklich: «Brauchen kann der Mann das Geld sicher, eigentlich hast du unbewusst den Osterhasen gespielt», und er klaubte aus seiner Hosentasche sein Portemonnaie, zupfte ein Hunderternötli heraus und gab es seinem verblüfften Sohn.