«Der Tod tanzte die ganze Reise mit»

Erstellt von Isabella Seemann |
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Sechs Jahre liegt seine Flucht aus Afghanistan zurück. Dennoch ist Seyid Hussein Husseinis Bericht «Die Überfahrt» über sein Ankommen in der Schweiz weit mehr als nur ein ganz persönliches Erinnerungsbuch. Am 20. September erzählt der ehemalige Küsnachter Maturand in der Bibliothek Küsnacht, wie Integration funktionieren kann.

Im August 2021 hat die radikal-islamische Taliban wieder die Kontrolle in Afghanistan übernommen. Wie ergeht es Ihnen, wenn Sie Nachrichten über Ihre alte Heimat hörten?

Als der Krieg in die Städte Afghanistans einzog und sich die Lage im August verschlimmerte, verfolgte ich die Nachrichten im Stundentakt. Ich finde keine Worte, um das gemischte Gefühl aus Wut, Ärger, Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit mit gebrochenem Herz zu beschreiben. Ich suchte in den Nachrichten und im Kontakt mit Menschen in Afghanistan nach einem Licht der Hoffnung – ob sich die Lage irgendwie nochmals verbessern wird.

Und, ist Ihnen das gelungen?

Vor wenigen Tagen fand ich eine kleine Hoffnung, die mich ein bisschen tröstete. In einem Gebiet namens Panjshir versammelten sich die Menschen aus allen Ethnien, Religionen und Farben um Ahmad Masoud, der zum Aufstand gegen die Taliban aufrief und die Welt um Unterstützung bat. Ich hoffe, dass die Welt seinen Ruf gehört hat. Es tröstete ein bisschen, weil man überzeugt wird, dass das Land nicht ganz verloren gegangen ist.

Wie geht es Ihrer Familie in Afghanistan?

Meine nächste Familie ist in Russland. ­Ihnen gehts gut. Sie sind schon vor ein paar Jahren nach Russland umgesiedelt. Irgendwie wusste man schon früher, dass die Taliban kommen werden. Jedoch bin ich seit August eng in Kontakt mit anderen Verwandten und Freunden in Afghanistan. Das Internet funktioniert einigermassen bis jetzt und in ländlichen Teilen hört man schon unangenehme Nachrichten von den Taliban, wie sie die Menschen verfolgen oder einiges verbieten und wie sie die Frauen unterdrücken.

Sie sind 2015, mit 17 Jahren, aus Afghanistan geflüchtet. Wussten Sie, was Sie auf der Flucht und danach erwarten würde?

Als ich mich auf den Weg machte, hatte ich einige Vorstellungen vom Weg, weil ich von anderen ein bisschen gehört hatte, was mich erwarten könnte. Ich wusste, dass der Tod während der ganzen Reise um mich tanzen wird. Ich vermutete, dass ich einiges auf dem Weg aushalten sollte. Andererseits wusste ich nicht viel über die Ankunft. Ein schnellerer Asylprozess, ein sicherer Ort und die Akzeptanz der Menschen formten unsere Grunderwartung. Wir hofften, in Frieden leben zu dürfen und Meinungs- und Wahlfreiheit zu haben. Das heisst, die Art des Lebens aussuchen zu können. Doch waren die Ankunft und die Erlebnisse innerhalb der Schweiz nicht einfach. Es war eine Reise des Lebens. Aber es zeigt sich jetzt, dass es möglich war. Man muss einiges aushalten.

Ihre Maturaarbeit im Fach Deutsch über Ihre Flucht wurde prämiert und als Buch publiziert. Was haben Sie beim Schreiben über sich gelernt?

Das Schreiben bedeutete mir am Anfang, die Sprache gut zu beherrschen. Mit dem Schreiben merkte ich, dass ich mich unterschiedlich äussern kann. Mit dem Schreiben habe ich auch angefangen, Bücher zu lesen und mich mit der deutschen Literatur vertraut zu machen. Ich habe die Exil-Literatur kennen gelernt. Die Werke von Heinrich Böll während der Trümmerliteratur, die ­unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, kamen mir näher. Dazu kommt, dass beim Schreiben die Erinnerung nochmals hervorgerufen wurde. Ich habe durch das Schreiben vieles gemerkt, worauf ich auf der Flucht wenig geachtet hatte. Das ­Schreiben hat eine neue Welt in mir ­geöffnet.

Wenige Flüchtlinge erreichen, was Sie schafften: Nach der Matura studieren Sie heute Wirtschaftsinformatik. Was braucht es, damit Integration funktioniert?

Ich würde sagen, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber es braucht natürlich auch viel Mut und Kraft, damit man nicht aufgibt. Es kam oft vor, dass ich während dieser Zeit dachte, dass es nicht klappen würde. Obwohl ich keine richtigen Deutschkurse besuchte, habe ich viel gelernt. Ich nutzte jede Situation und Chance, die sich mir bot. Es ist nicht einfach, aber es ist auch nicht unmöglich.

Wie empfinden Sie die aktuelle politische und gesellschaftliche Debatte über afghanische Flüchtlinge in der Schweiz?

Die aktuelle Debatte richtet sich mehr auf afghanische Flüchtlinge in der Schweiz, die versuchen, einen Familiennachzug oder ein humanitäres Visum zu beantragen. Jedoch macht es ihnen das Staatssekretariat für Migration SEM sehr schwer. Leider macht die Schweiz weniger, als sie machen könnte. Die humanitäre Tradition des Landes braucht auch Handlungen. Aber wenn beispielsweise in der «Rundschau» das SEM sich dazu äussert, für afghanische Flüchtlinge nichts zu machen und vor Ort zu helfen, was eigentlich nichts bedeutet, da man vor Ort gar nicht helfen kann, ist das leider bedenklich.

Wie schwer fällt es Flüchtlingen aus Afghanistan, sich an die Schweizer Gesellschaft zu gewöhnen, unsere Werte, unsere Normen und Spielregeln zu akzeptieren?

Es ist sehr individuell und hängt von der Person ab. Es gibt Afghanen, die sich rasch und schnell integrieren lassen und in der Arbeitswelt tätig sind. Jedoch gibt es auch Menschen, die mehr Zeit brauchen. Ich glaube, es ist ein besseres Zusammenleben nötig. Man akzeptiert die Spielregeln in der Schweiz und respektiert die Normen, wenn man ankommt. Schwer ist es nicht. Aber es soll gegenseitig sein.

Was vermissen Sie an Afghanistan am meisten?

Das Essen natürlich. Die Küche von Afghanistan ist wunderbar. Ich kann Ihnen das Restaurant Afghan Anar im Kreis 5 in Zürich empfehlen.

Was sind Ihre Zukunftspläne?

Erstens möchte ich mein Studium fertig machen und International Relationship als Master studieren. Wahrscheinlich bleibe ich in der Schweiz. Ich würde zurück nach Afghanistan gehen, sollte Freiheit und Demokratie dort nochmals ihren Platz finden, denn ich sehe mich als eine Person, der etwas zur Demokratie und Entwicklung von Afghanistan beitragen kann.

Im Rahmen der Vortragsreihe «Küsnachterinnen und Küsnachter, die etwas zu sagen haben» der Bibliothek Küsnacht ist Seyid Hussein Husseini zu Gast am Montag, 20. September. Beginn: 19.30 Uhr. Bitte um Anmeldung per E-Mail an bibliothek@kuesnacht.ch oder telefonisch unter 044 910 80 36.