Der Vogelflüsterer von der Forch

Erstellt von Daniel J. Schüz |
Zurück

Seit mehr als einem halben Jahrhundert wohnt Enzo Botta mit seiner Frau Margrit auf der Forch. Seine besten Freunde sind die Rotmilane, die ihn täglich besuchen.

Seit die Flugzeuge nicht mehr dröhnend im Fünf-Minuten-Takt einschweben, ziehen vermehrt wieder richtige Vögel ihre Kreise über den Dächern auf der Forch. Und Enzo Botta – eigentlich heisst er ja Vincenco, aber so nennt ihn keiner mehr, seit er als Teenager seine süditalienische Heimat verlassen musste – lächelt zufrieden in sich hinein. Mehrmals täglich holt er eine Schale mit Hühnerknochen und anderen Fleischresten aus dem Kühlschrank – manchmal sind auch die Überreste einer Maus dabei, die Kater Napoleon hinterlassen hat – und verschwindet im Garten hinterm Haus.

Stets akkurat gescheitelt
Enzo ist ein stattlicher Mann, seine 74 Lebensjahre sieht ihm keiner an. In klaren Augen funkelt der Schalk, den runden Bauch trägt er mit stolzer Würde und das immer noch volle angegraute Haar stets akkurat gescheitelt. Er ist kein Weltmeister in der Küche, aber den Imbiss für seine gefiederten Freunde richtet er eigenhändig her, und wenn er zwischen Schnauz und Kinnbart die Lippen schürzt, fährt ein scharfer, hell zwitschernder Pfiff in die Höhe. Es dauert nicht lange, bis von irgendwo dort oben die Antwort kommt – wie ein Echo, das sagt: Bin ja schon da!
In einer Ecke des Gartens hat Enzo Botta eine selbst konstruierte Teleskopstange montiert, darauf einen Metallteller, den er zum Bestücken herunter- und zum Servieren wieder hochkurbeln kann. Und schon sticht er herab, einer von gut einem halben Dutzend Rotmilanen, die Enzo Botta auf die Forch gelockt hat. «Schon als Kind war ich fasziniert von Vögeln», erzählt er. «Die grossen Raubvögel, die ja auch nichts dafürkönnen, dass die Menschen ihnen diese ehrverletzende Bezeichnung verpasst haben, ebenso wie die Schwalben, die ihre Nester wie kleine Reihenhäuser unter unser Dach gebaut haben.»
Nach dem Zweiten Weltkrieg liegen grosse Teile des Kontinents in Schutt und Asche. Bittere Armut herrscht, die Menschen leiden Hunger – auch im südlichen Italien. Auf dem Botta-Hof, in der Provinz Kampanien zwischen der Stadt Salerno und dem Dorf Eboli, wissen die Bauersleute nicht, wie sie fünf hungrige Mäuler stopfen sollen. Es ist eine Zeit, in der Kinder zwangsläufig früh lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.
Vincenco, der Jüngste, ist 15, als er beschliesst, sein Glück im Norden zu suchen. Er kommt bei zwei Geschwistern in Bologna unter, wo er zunächst Hilfsarbeiten in einem Handwerksbetrieb ausführt. Als er hört, dass seine andere Schwester in einem Dorf in der Nähe von Zürich eine neue Heimat gefunden hat, beschliesst er, sie in Egg auf dem Pfannenstiel zu besuchen. In Zürich findet er einen Job in einer Werkstatt, wo er für 1.90 Franken Stundenlohn einfache Stanzarbeiten erledigt. Morgens nimmt ihn der Schwager meisten im Auto mit in die Stadt, auf der Heimfahrt ist er häufig auf die Forchbahn angewiesen.
Damals hiess die S 18 noch Tante Frieda; das heutige Trottoir der alten Forchstrasse war das Trassee des Regionalzuges, und gleich neben dem Bahnhof Forch wohnte der Posthalter. Seine Tochter Margrit liebte es, am Fenster zu sitzen und die Gesichter der Leute zu studieren, die im Zug vorbeifuhren. Ein junger Mann fiel ihr besonders auf, er grinste sie durch die Scheibe ganz unverfroren an.
Was das wohl für ein Mädchen ist?, dachte Vincenco jedes Mal, wenn der Zug an der Station Forch anhielt. Sitzt immer am Fenster, sieht hübsch aus und lächelt.

Romanzenbeginn im Mai 1963
An einem Nachmittag im Mai 1963 steht sie beim Bahnhof Stadelhofen und wartet auf den Zug. Genau wie er. «Ciao!» – «Dich kenn ich doch, du fährst doch immer nach Egg.» – «Scusi?» Er spreche italienisch, und hier in der Schweiz reden sie nicht mal richtig deutsch. «Macht nix, ich hab eine Nonna in Italien, parla es bitzeli Italiano.»
Am 24. August 1984 – Enzo hat sich das Datum eingeprägt, als sei es sein Geburtstag – nimmt er offiziell Wohnsitz in der Schweiz. Und drei Jahre später – er ist jetzt 19, sie
17 Jahre jung – feiern Margrit und Enzo Hochzeit; das junge Paar richtet sich im oberen Stock der Forch-Post ein. Enzo macht sich als Kleinunternehmer selbstständig und spezialisiert sich auf die Installation von Neonreklamen: Leuchtende Schriften und Werbebotschaften an den Fassaden von Hotels, Restaurants und Ladengeschäften haben Konjunktur.

Sterne ohne Politik
Bald kommen Sohn Marco und Tochter Manuela zur Welt, und mittlerweile sind zwei der fünf Enkelkinder auch schon erwachsen. Im Garten hinter dem Wohnhaus, neben dem grossen Swimmingpool, hat Enzo ein zweites Häuschen gebaut, ganz aus Holz mit roten Geranien vor dem Fenster – es ist so klein, dass fünf spielende Kinder knapp Platz finden. «Villa Cinque Stelle» verrät die Schrift über der gelben Tür, «Villa Fünf Sterne», und Enzo lacht: Nein, mit italienischer Politik habe das ganz und gar nichts zu tun: «Die Cinque Stelle leuchten für unsere fünf Enkelkinder!»
In diesem Jahr sind die Bottas zum ersten Mal nicht in die Campagna gefahren, um Verwandte zu besuchen. «Wegen Corona», sagt Enzo, «es ist uns nicht leichtgefallen, aber es ist besser so. Das Land hat in dieser Zeit viel durchmachen müssen.» Dafür hat er ein Stück Heimat ins Wohnzimmer geholt. Durch die angedeutete Öffnung in der Wand strahlt die Sonne herein, zwischen gelb und ocker bemalten Häusern öffnet sich eine Bucht, Wolken ziehen übers Meer. Eine gute Freundin habe den Blick in eine ferne Vergangenheit auf die Wand gepinselt, erzählt Enzo, er habe ihr sein Dorf beschrieben, sie habe es aus ihrer Fantasie heraus gemalt: «Und es sieht tatsächlich so aus wie damals, nur das Meer, das hat sie dazu gedichtet!»

Leuchtender Advent
Wenn die Adventszeit naht, leuchtet Rudolph, das Rentier vom Weihnachtsmann, an der Brüstung des Balkons, darunter wartet der Esel auf den Samichlaus, und das ganze Jahr über bevölkert eine kleine Gartenzwergfamilie die Treppe zum Hauseingang. «Für die», lacht Enzo, «ist meine Frau zuständig.»
Die Schweizer Fahne jedoch, die an einer langen Stange über dem Vorgarten flattert, wird täglich neu gehisst – von einem, der seine Heimat verlassen musste, um in der Fremde sein Glück zu finden. Und auf der Forch angekommen ist.

**************

Serie Sommerstafette

In diesem Sommer werden Küsnachter Persönlichkeiten vorgestellt. Dabei entscheidet die porträtierte Person, wer in der nächsten Ausgabe zum Thema gemacht wird. Enzo Botta hat sich für Rahel Fierz entschieden, Mutter von drei Kindern und Umweltwissenschafterin. (ks.)