Die telefonische Nachsorge hilft oft weiter

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«Etwa die Hälfte der Depressionspatienten erleidet einen Rückfall nach einer eigentlich erfolgreichen Behandlung», weiss Birgit Watzke. Die Zürcher Professorin erklärt im Interview, wie es dazu kommt – und was helfen könnte. Von Jakob Metzler

Am Lehrstuhl «Klinische Psychologie mit Schwerpunkt Psychotherapieforschung» befassen sich Prof. Dr. Birgit Watzke und ihr Team mit der Langzeitwirkung von Psychotherapien. Sie erklärt, wie schwer die wirksame Heilung von psychischen Erkrankungen und speziell Depressionen immer noch ist. Ihre Studie zur Nachsorge von depressiv Erkrankten macht aber auch Hoffnung.

Birgit Watzke, Sie forschen zur Psychotherapie an der Universität Zürich, was ist das Besondere an Ihrem Lehrstuhl?
Wir haben neben klassischer Forschung zur Psychotherapie auch
einen Arm in die Versorgungsforschung ausgestreckt. Wir erforschen das Ganze nicht unter Optimalbedingungen. Wir schauen uns an, was
eigentlich passiert, wenn eine Therapie in der Routine stattfindet.

Woran zeigen sich die Unterschiede zwischen Optimalbedingungen und praxisnäheren Bedingungen?

Es ist meistens nicht so, dass jemand psychisch erkrankt, eine Behandlung erhält, dann wieder gesund wird, und alles ist wunderbar. Das ist wünschenswert und passiert auch manchmal. Aber leider ist das nicht der Regelfall. Patienten haben oft über Jahre und oft auch über Jahrzehnte Behandlungspfade oder Behandlungsgeschichten. Die Gründe sind zum Teil krankheitsimmanent, das heisst, dies kann dadurch entstehen, dass einige psychische Erkrankungen an sich chronisch oder wiederkehrend sind. Wir wissen aber auch, dass es im Versorgungssystem einigen Optimierungsbedarf gibt – nicht nur in der Schweiz, sondern auch international.

Was führt zu diesen langen Behandlungsverläufen?
Bei Patienten dauert es oft Jahre, bevor sie eine fachgerechte Behandlung erhalten. Jemand mit einer Angsterkrankung braucht im Durchschnitt ca. sieben Jahre, um an die Fachperson zu gelangen, die dann eine fachgerechte und angemessene Behandlung angeht. Das ist ein Teil des Problems.

Liegt das nicht auch an den Patienten?
Ja, dass man sich zum Beispiel eine psychische Erkrankung nicht eingestehen möchte, weil diese immer noch schambesetzt ist. Oft werden die Beschwerden auch vor allem körperlich erlebt. Jemand, der zum Beispiel eine Agoraphobie hat, also Angst hat, sich in Menschenansammlungen oder der Öffentlichkeit aufzuhalten, dem wird vielleicht schwindlig, und er erlebt einen Panikzustand, bei dem er fürchtet, einen Herzinfarkt zu erleiden. Er führt das darauf, dass er ein schwaches Herz hat, und geht dann nicht zum Psychotherapeuten, sondern erst mal zu seinem Hausarzt und fragt, ob er nicht kardiologisch durchgecheckt werden könnte. Das ist ja an sich auch nicht falsch. Wenn klar wird, dass keine Herz-Kreislauf-Erkrankung vorliegt, die Panikzustände und die Vermeidung von Menschenansammlungen aber anhalten, ist an eine Angsterkrankung zu denken. Es kann dabei allerdings lange dauern, bis man den Weg zum psychischen Ursprung des Problems in Betracht zieht – vielmehr werden oft weiter intensiv körperliche Untersuchungen durchgeführt.

Wann kommt der Zeitpunkt, wenn man selbst oder der Arzt für einen merkt, dass man eine psychotherapeutische Behandlung braucht?
Das ist gar keine so einfache Aufgabe. Ein Symptom kann mehreres bedeuten. Es gibt die ICD, das ist ein Klassifikationssystem, da werden alle Erkrankungen klassifiziert. Egal ob Diabetes, ein gebrochenes Bein oder eben Depression. Dort werden Kriterien aufgestellt, auch für die psychischen Erkrankungen. Es wäre der Optimalfall, dass ein Hausarzt an irgendeiner Stelle merkt: «Ah, da könnte auch etwas anderes dahinterstecken, ich klopfe das mal ab auf die anderen Symptome.» Dann kann er einen Fachkollegen wie einen Psychiater oder einen Psychotherapeuten miteinbeziehen.

Wenn man sich das Krankheitsbild einer Depression vorstellt: Wie gut sind die verschiedenen Bereiche erforscht?
Es gibt insgesamt mittlerweile eine Menge an Wissen dazu, z. B. einiges zu den Entstehungsbedingungen und ebenfalls zu den aufrechterhaltenden Bedingungen der Krankheit. Es ist aber immer wieder eine Kunst, bei einem einzelnen Patienten herauszufinden, was bei diesem die spezifischen Faktoren sind, die zur Krankheit geführt haben. Es gibt Vulnerabilitätsfaktoren, das sind biologische und genetische Faktoren sowie Umgebungsbedingungen, die Menschen für die Entstehung der Krankheit anfällig machen.

Also gibt es tatsächlich genetische Faktoren, die Depressionen bedingen können?
Wenn es eine genetisch bzw. biologisch bedingte Anfälligkeit gibt, braucht es von der Umgebung weniger starke Faktoren, dass es zu der Erkrankung kommt. Andersherum kann es sein, dass jemand auf biologischer Ebene nicht anfällig ist, aber sehr schwierigen Umgebungsbedingungen ausgesetzt ist. Auch dann kann es zu einer Depression kommen. Es ist letztendlich ein additives Modell. Patienten, die wir sehen, haben meistens beides ein Stück weit. Es gibt neben den biologischen Vulnerabilitäten auch die psychologischen Vulnerabilitäten. Die entstehen und vertiefen sich dann eben durch die Umgebung, was jemand in seinem Leben erlebt hat.

Haben Sie dazu ein Beispiel?
Jemand hat in seinem Elternhaus eher schwierige Rahmenbedingungen. Dann kann sich ein Schema ausbilden wie: «Ich bin nur etwas wert, wenn ich etwas leiste.» Diese Person kommt in eine chronische Überforderung und kann nicht mehr. Dann bricht das ganze System zusammen. Das wird zu einer Spirale nach unten. In dem Moment, wo jemand zusammenbricht, kann er nichts mehr leisten. Dann aktiviert sich das erlernte Schema, und er sagt sich: «Ich bin nichts wert, ich komme morgens ja nicht mal aus dem Bett.» Die Selbstabwertung nimmt mehr zu.

Wie geht man dann an eine Therapie heran?
Es gibt verschiedene Therapieformen, die man anwenden könnte. Zum Beispiel, diese Schemata aufzubrechen oder zu relativieren. So führt sich die Person vor Augen, dass sie viel strengere Standards an sich selbst hat als an andere. Was man auch gut gesichert weiss, ist, dass es bei Depressiven einen Verstärkerverlust gibt. Wir alle funktionieren ein Stück weit danach: «Wenn ich etwas mache und es folgt etwas Positives, dann lerne ich, das ist gut, und mache das häufiger.» Dadurch, dass Leute, die in eine Depression reinrutschen, sich öfter stärker zurückziehen, haben sie den sozialen Verstärker nicht mehr.

Was bedeutet das?
Solche Leute gehen nicht mehr so oft nach draussen, unterhalten sich nicht viel, ziehen sich vor ihren Freunden zurück. Das heisst, dieses positive Feedback aus der Umgebung bleibt aus. Dadurch gehen Stimmung und Selbstwert noch weiter in den Keller.

Sie arbeiten gerade an einer Studie zur Nachsorge von Depressionen. Was hat es dabei auf sich?

Die Studie bezieht sich auf die Zeit nach der eigentlichen psychotherapeutischen Behandlung. Für diese haben wir zwar effektive Therapien, aber die Nachhaltigkeit ist trotzdem oft ein Problem. Was passiert eigentlich, wenn die Behandlung erfolgreich abgeschlossen ist? Bei Depressionen kommt es innerhalb eines Zweijahresrzeitraums bei rund der Hälfte der Patienten zu einem Rückfall, was traurig und auch schade ist, denn die Therapie an sich ist erfolgreich gewesen.

Man könnte natürlich sagen, die Therapie sei nicht erfolgreich gewesen, weil sie nicht nachhaltig war ...
Der springende Punkt ist, dass, wenn Patienten in Behandlung waren und es ihnen besser geht, sie oft auch so einen Effekt haben wie: «Uff, jetzt reicht es aber auch erst einmal, jetzt mache ich alleine weiter.» Das ist oft keine so gute Schlussfolgerung. Denn wenn man nach Behandlungsende Menschen ein bisschen länger begleitet und es eine Unterstützungsphase gibt, gehen die Rückfallquoten herunter, d. h., das, was in der Psychotherapie erarbeitet wurde, kann weiter zum Tragen kommen und sich verfestigen.

Hält der positive Effekt nur für die Zeit der Nachsorge an, oder ist er nachhaltig und bleibt auch danach?
Das ist eine gute Frage – die dazu vorliegenden Studien sind sehr vielversprechend, es ist aber noch nicht definitiv abgesichert. Wir wissen, dass in dieser Nachsorgephase die Kontakte nicht sehr intensiv sein müssen. Bei unserem Projekt zum Beispiel gibt es einmonatige Kontakte. Das machen wir per Telefon.

Was sind die Vor- und die Nachteile dieser Telefonmethode – besonders im Vergleich zu einer Face-to-Face-Therapie?
Ein Vorteil liegt auf der Hand: Man hat keine Fahrtwege. Das heisst, man kann von eigentlich überall telefonieren. Wobei es allerdings wichtig ist, dass man nicht etwa in der S-Bahn so ein Gespräch führt. Man braucht dafür schon einen geschützten Rahmen. Es gibt auch Lebenssituationen, bei denen man von zu Hause nicht wegkann, wie durch das Pflegen eines Angehörigen oder wenn man kleine Kinder daheim hat.

Sind die Menschen dafür motivierter?

Man ist so zeitlich flexibler, und Termine sind einfacher zu finden. Wir wissen, dass eben in der Nachsorgephase Patienten oft nicht ganz so motiviert sind dabeizubleiben. Ein Vorteil des Telefons ist, dass man – trotz des geringeren Aufwands – persönlichen Kontakt hat. Man weiss, wer da an der anderen Seite der Leitung ist. Aber da ist gleichzeitig auch ein bisschen Distanz, was für einige Patienten zunächst oft auch ganz gut ist. Die Schwelle, eine Nachsorge zu beginnen, sinkt.

Trifft man den Psychotherapeuten auch persönlich?
Ja, die Nachsorge beginnt mit einem persönlichen Treffen. Das haben wir lange überlegt. Das bisherige Feedback gibt uns recht in der Entscheidung, dass es einen Face-to-Face-Kontakt gibt. Wir knüpfen direkt daran an, was in der Therapie vorher passiert ist. Das heisst, es gibt ein Brückengespräch, und da wird gefragt: «Was war hilfreich? Was sind Strategien, die Sie in der Therapie gelernt haben und jetzt in den Alltag reinnehmen möchten?» Darin unterstützen wir die Teilnehmenden dann. So wird das bisher nicht systematisch in der Nachsorge gemacht. Unsere Idee ist, mit relativ wenig Aufwand und einer guten Integrierung in den Alltag Patienten eine nachhaltige Besserung zu ermöglichen.

In welchem Stadium ist die Studie gerade? Haben Sie schon alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen gefunden, oder kann man sich noch anmelden?

Doch, man kann sich noch anmelden. Wir sind mittendrin und haben bisher sehr gute Erfahrungen gemacht. Es sind momentan um die 60 Personen in der Studie. Wir haben uns jetzt entschieden, dass Patientinnen und Patienten, die vor kurzem eine Psychotherapie wegen einer Depression absolviert haben, sich auch selbst melden können.

Wie lange läuft Ihre Studie noch?

Die Studie läuft noch etwa ein knappes Jahr. Man kann sich also noch melden und in Ruhe diese Therapie in Anspruch nehmen. Teilnehmende haben eine 50:50-Chance, die Behandlung zu bekommen, weil man ja auch eine Vergleichsgruppe braucht. Das Projekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert, sodass wir die Nachsorgebehandlung kostenfrei anbieten können.

Kontaktmöglichkeiten und weitere Informationen zur angesprochenen Studie.