Die Zwillinge und die Impflinge

Erstellt von Daniel J. Schüz |
Zurück

Nora und Sina Arpagaus studieren im selben Semester Jura, sie spielen im selben Verein Fussball. Und jetzt haben sie auch noch denselben Job – im Impfzentrum Meilen. Sie sind überzeugt, dass  die Gesellschaft jetzt zusammenstehen und solidarisch bleiben muss.

Das Bestätigungsschreiben mit dem ­QR-Code, die ID und die Krankenkassenkarte – alles da. Prima.

Die junge Frau am Empfang begrüsst die alte Frau mit einem Lächeln, das fröhlich aus den Augen strahlt. Mit spitzer Pinzette zupft sie eine Gesichtsmaske aus dem Behälter und reicht sie weiter: «Die müssen Sie jetzt bitte tragen und anbehalten, solange Sie bei uns im Impfzen­trum sind.»

Folgsam zieht die Besucherin die beiden Schlaufen hinter die Ohren und klemmt den Maskenrand über die Nase, während Nora Arpagaus «noch ein paar Fragen» hat:

«Fühlen Sie sich auch völlig fit?»

«Wie ein Turnschuh!»

«Hatten Sie in letzter Zeit Kontakt mit einer Person, die positiv auf Covid-19 ­getestet wurde?»

«Nicht, dass ich wüsste.»

«Sehr gut, dann dürfen Sie sich jetzt dort drüben anstellen.»

Dort drüben werden zur Sicherheit dieselben Fragen noch einmal gestellt und dieselben Dokumente erneut überprüft. Dann erst wird die Impfung erlaubt – und aus der Impf-Kandidatin ein Impfling.

Das Wort des Jahres

Impfling! Seit vor drei Wochen die Impfzentren in allen Bezirken des Kantons ihren Betrieb aufgenommen haben, hat der Begriff in der coronakonformen Umgangssprache Einzug gehalten. Gut möglich, dass der Impfling demnächst zum Wort des Jahres 2021 erkoren wird – obwohl er natürlich alles andere als politisch korrekt ist: Wie um Himmels Willen geht man mit einem Impfling gender­gerecht um? Die Frage stellt sich natürlich auch in Bezug auf den ebenso männlichen Begriff Zwilling – oder für das ­sächliche Paar, das im vorliegenden Fall unübersehbar und gleich doppelt weiblich ist.

Die Zwillingsschwestern Nora und Sina Arpagaus – schlanke, fast zierliche Figur; glatte, schulterlange Haare – gehören zum Team der ersten Stunde. «Wir sind einander schon ziemlich ähnlich», schmunzelt Sina. «Trotzdem», ergänzt Nora, die sich, wenn man genau hinschaut, durch einen Rotstich im Haar von ihrer Schwester abhebt. «Wir sind zweieiige Zwillinge!»

Auf das geplante Meilemer Impfzen­trum und die Möglichkeit, sich dort mit einem befristeten Teilzeitjob nützlich zu machen, sind die beiden durch einen ­gemeinsamen Bekannten aufmerksam gemacht worden. Nora und Sina, die am 20.  November gemeinsam den 20. Geburtstag feiern, gemeinsam in Uetikon am See aufgewachsen sind, gemeinsam Fussball spielen und gemeinsam an der Uni in Zürich – derzeit allerdings vor allem online zu Hause – Jura studieren, haben sich denn auch gemeinsam für den Job beworben. Mit Erfolg: Sie sind nicht nur gemeinsam angestellt worden; sie­
legen auch Wert darauf, dass sie in der­selben Schicht eingeteilt werden.

Nur die Aufgaben sind unterschiedlich: «Zum Glück gibt es diese Abwechslung», sagen sie. «Mal dürfen wir die Leute begrüssen, mal verabschieden wir sie. Und zwischendurch achten wir im grossen Zelt darauf, dass es den frisch Geimpften gut geht.» Nicht nur untereinander, auch in Bezug auf die Corona-Pandemie betonen die Arpagaus-Zwillinge – so nennt man sie mittlerweile im Zentrum – die Gemeinsamkeit als verbindenden Wert: «Wir können die Krise nicht bewältigen, wenn wir einander bekämpfen, wenn Junge sich gegen Alte auflehnen und wenn Verschwörungstheoretiker gegen staatliche Massnahmen protestieren.» Auch in diesem Punkt sind sie sich einig: «Wir müssen als Gesellschaft zusammenstehen, solidarisch bleiben und Toleranz üben – nur so kriegen wir die Krise in den Griff.»

So viel Einsicht in die Notwendigkeit der Vernunft wird mit zunehmender Dauer des globalen Ausnahmezustands immer seltener. Für Nora und Sina geht es aber auch um Gerechtigkeit und Fairness – Werte, die ihnen in die Wiege gelegt worden sind: Vater Reto Arpagaus ist Wirtschaftsanwalt, Mutter Annina arbeitet als Anwältin beim Migros-Genossenschafts-Bund – und ihre ältere Schwester Flavia, die in der Küsnachter Gemeindeverwaltung für das Personal zuständig ist, hat die Zwillinge für den Sport begeistert. «Im Frauenfussball», sagt Nora, die Aussenverteidigerin beim Zweitligisten «Zürisee United», «haben wir gelernt, dass man hart einsteigen kann, aber trotzdem fair bleiben muss.» Und Sina, die Strategin im Mittelfeld, weiss, dass «du nie Angst, aber immer Respekt vor dem Gegner haben sollst.» Was auch für Corona gilt: Nora hat eine Covid-19-Erkrankung überstanden.

«Zum Glück war es nur ein leichter Verlauf. Ich hatte eine Woche lang Kopf- und Gliederschmerzen, musste zehn Tage in der Quarantäne bleiben. Jetzt bin ich so gut geschützt, als wäre ich geimpft. Trotzdem befolge ich die Regeln, trage die Mund-Nasen-Maske und halte den Abstand ein.» So lange, bis der Spuk wieder aus der Welt ist und «wir bald wieder Freunde treffen und im Stadion einen Sieg unseres FCZ bejubeln können.»

Nach einer Viertelstunde ist es überstanden: Die alte Frau erhebt sich im Ruheraum von ihrem Stuhl und geht an den Schalter, um den letzten administrativen Akt zu erledigen. Als ihr das Dokument, das die erfolgte Impfung bestätigt, ausgehändigt wird, stutzt sie. Die junge Frau, die das Papier ausgedruckt hat, kommt ihr irgendwie bekannt vor. Hat sie nicht schon beim Empfang das Lächeln in diesen Augen gesehen?