Ein Fall von «Long Covid» wehrt sich 

Erstellt von Pia Meier |
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Die Pflegefachfrau Nadine Deringer setzt sich für bessere Arbeitsbedingungen und die Wahrung der Patientenwürde ein. Persönlich ist sie ein Beispiel von «Long Covid». Sie war nach ihrer Erkrankung wochenlang geschwächt. Ihr Geruchssinn ist heute noch gestört. 

Es war fast genau vor einem Jahr. Am Abend des 19. März klatschte die Schweiz kollektiv für alle, die dafür sorgten, dass während des Lockdowns infolge des Coronavirus alles rund lief. Applaus gab es auch für das medizinische Fachpersonal. Nadine Deringer (42), Pflegefachfrau sowie diplomierte Shiatsu-Therapeutin und Komplementär-Therapeutin, bekam wie andere Pflegefachfrauen wenig davon mit. Sie war im Dauereinsatz. Es war für sie, die über 20 Jahre im Pflegeberuf arbeitet, verheerend, dass die Zeit fehlte, um den Patientinnen und Patienten die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. 

Lohnstagnation seit zehn Jahren
Deringer arbeitet 20 Prozent in der Pflege. Ihr Hauptstandbein ist ihre Shiatsu-Praxis in der Selnau, die sie seit 2012 führt. «Ich mache das gerne. Es ist mediativ und deshalb ein Ausgleich zu meiner Arbeit als Pflegefachfrau.» Trotzdem war für Deringer vor Corona klar, dass sie bis zur Pensionierung im Beruf bleiben würde. 
Heute sieht sie es anders. Schon während ihrer Ausbildung setzte sie sich für die Aufwertung des Pflegeberufs ein. ­Zuerst klappte es gut. Mit den Jahren ­jedoch ging es gemäss Deringer mit der Branche bergab. Extreme Sparmassnahmen ­hätten bei den Angestellten zu Überbelastung und Kündigungen geführt. Die würdevolle Pflege von Patientinnen und Patienten konnte je länger, desto weniger gewährleistet werden. «Ein weiteres Beispiel für das Kranken des Pflegeberufs ist die Tatsache, dass ich seit zehn Jahren mit einer Lohnstagnation zu kämpfen habe», hält Deringer fest. Und die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen seien in der Pflege gross. Ein Teilzeitlohn einer Pflegefachfrau reiche nicht fürs Leben, weshalb viele aussteigen würden. «Der Unmut ist gross», betont Deringer. «Ich würde diesen Beruf deshalb nicht weiterempfehlen, obwohl ich ihn liebe.»

Heute noch stark geschwächt
Deringer erkrankte im März 2020 selber an Corona. «Ich musste deshalb das Pensum in meiner Praxis stark reduzieren, mehr war nicht mehr möglich.» Sie hatte Geruchssinnstörungen, Fieber, starke Kopfschmerzen und Gliederschmerzen. Und vor allem fühlte sie sich während mehrerer Wochen stark geschwächt. Dies ist heute noch der Fall. Auch der Geruchssinn ist als Langzeitfolge nach wie vor gestört. Deringer ist ein Fall von «Long Covid». «Diese Erkrankung ist eine hartnäckige Sache, die auch jüngere Menschen treffen kann. Ich habe noch nie so etwas erlebt.» Sie sei deshalb auch für restriktive Massnahmen des Bundesrats und für vorsichtige Öffnungen. Seit ihrer eigenen Corona-Erkrankung und der darauf­folgenden dreiwöchigen Zwangspause engagierte sich Deringer noch mehr als zuvor. 

Problem Sterbebegleitung 
Sie wollte nicht tatenlos zuschauen, wie der von ihr geliebte Pflegeberuf immer unattraktiver wird. Also schrieb sie der Geschäftsleitung, legte Missstände offen, wandte sich an Politikerinnen und die Medien. Sie forderte und fordert mehr Personal, Lohnanpassungen und einen automatischen Stufenanstieg bei grösserer Berufserfahrung. Sie engagiert sich aber auch für die Finanzierung der Palliative-Care-Behandlung und -Begleitung. «Palliative Care ist oft sehr komplex, wie eine Art Intensivstation für Sterbende», erläutert Deringer. «Aber abgerechnet wird wie in einem Pflegeheim beziehungsweise es läuft über Langzeitpflege. Ein Paradoxum.» Das bedeute, dass wichtige Gespräche in der letzten Lebensphase nicht abgerechnet werden können, sondern nur ganz konkrete pflegerische Leistungen wie zum Beispiel die Körperpflege. «Diese Situation, dass in einem ­reichen Land ein würdevolles Sterben in einer Institution nicht finanziert wird, stimmt mich nachdenklich und traurig.» Die Reaktionen auf ihr Engagement waren unterschiedlich, setzten aber etwas in Gang. «Ich war froh um die Auszeichnung ‹Zürcherin des Quartals› von der Frauenzentrale Zürich. Sie hat mir geholfen.»

Hoffnung Pflegeinitiative
Nun hofft sie auf die eidgenössische Pflegeinitiative des Berufsverbandes. Diese Initiative für eine starke Pflege verlangt, dass Bund und Kantone die Pflege als wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung anerkennen und fördern und für eine ausreichende, allen zugängliche Pflege von hoher Qualität sorgen. Sie soll sicherstellen, dass eine genügende Anzahl diplomierter Pflegefachpersonen für den zunehmenden Bedarf zur Verfügung steht und dass die in der Pflege tätigen Personen entsprechend ihrer Ausbildung und ihren Kompetenzen eingesetzt werden. «Diese ist für mich ein kleiner Lichtblick. Leider dauert es aber fünf Jahre, bis sie in Kraft treten kann. Meiner Meinung nach ist es dann zu spät», betont Deringer. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, dass das Parlament nun den indirekten Gegenvorschlag doch noch anpasst und bessere Arbeitsbedingungen mit hineinnimmt, sodass sich die Situation rascher bessern könnte. Der indirekte Gegenvorschlag kommt voraussichtlich am 19. März in die Schlussabstimmung des National- und Ständerats. Auch privat setzt sich Deringer für die Pflege ein. Seit kurzem ist sie als VPOD-Mitglied in der Gesundheitsgruppe der Alternativen Liste (AL) aktiv. 

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Nadine Deringer: Einsatz für die Ärmsten
Nach ihrer Ausbildung zur Pflegefachfrau war Nadine Deringer zuerst im Beruf tätig. Von 2001 bis 2005 arbeitete sie in Kolumbien bei der Stiftung Laudes infantis, einer Nichtregierungs­organisation. Ziel von Laudes infantis: Tauschhandel mittels Tauschhandelsbanken, Gemeinschafts- und Präventionsarbeit sowie Hilfe zur Selbsthilfe in den ärmsten Viertel Bogotás. Damit sollen Kinder nicht auf der Strasse landen und nicht ins Drogenmilieu und in die Prostitution gelangen. Später erfüllte sich Deringer einen Kindheitstraum und nahm 2015 eine Auszeit in der Mongolei. Sterbende begleiten ist ihre Passion. Sie ist im Vorstand von «Kompas». Kompas ist eine Vereinigung von im Palliativbereich tätigen Komplementär-TherapeutInnen und AlternativmedizinerInnen. Deringer (geboren 1979) lebt in Zürich-
Wollishofen. 

Viele Covid-19-Patienten  mit Post-Covid-Syndrom
Die «NZZ» berichtete eben über eine Forschungsarbeit an der Uni Zürich. Demnach leidet jeder vierte Corona-Infizierte sechs Monate später noch unter Symptomen. Das ist weit mehr als in einer britischen Studie, die lediglich von zwei Prozent ausging. Man spricht in diesem Zusammenhang von Long Covid oder neu vom  Post-Covid-Syndrom. 

Zürcherin des Quartals
Regelmässig kürt die Frauenzentrale Zürich, ein gemeinnütziger, steuer­befreiter Verein und der grösste Dachverband von Frauenorganisa­tionen im Kanton Zürich, eine innovative Frau zur «Zürcherin des Quartals». Bisher wurden unter anderen Historikerin Elisabeth Joris, Klimaaktivistin Marie-Claire Graf, Regisseurin Petra Volpe und Fussball­expertin Tatjana Haenni für ihren Einsatz ausgezeichnet. Das Format «Zürcherin des Quartals» feiert dieses Jahr sein 10-jähriges Bestehen. Kennen Sie eine mutige, kreative oder eigenwillige Zürcherin? Schlagen Sie eine Kandidatin zur Wahl als «Zürcherin des Quartals» vor. Die Frauenzentrale Zürich freut sich auf Ideen an die Adresse: zh@frauenzentrale-zh.ch