Ein Heimatdichter wiederentdeckt

Erstellt von Isabella Seemann |
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Meinrad Lienert, der seine letzten Lebensjahre in Küsnacht wohnte, zählt zu den bedeutendsten Schweizer Autoren. Der Zürcher Chronos-Verlag holt ihn mit der Neuausgabe von «Der doppelte Matthias und seine Töchter» aus der Vergessenheit.

Als Meinrad Lienert am 26. Dezember 1933 im Alter von 68 Jahren an Herzversagen in Küsnacht starb, stand er als Heimatdichter und Begründer der Schweizer Mundartliteratur in höchsten Ehren. Von seiner grossen Lesergemeinde wurde er schon zu Lebzeiten gefeiert. Wie kaum ein anderer hatte er die Schweizer so trefflich ­geschildert, ihr Sehnen und Hoffen besungen, ihre Leiden und Kämpfe in ­Gedichten und Geschichten übertragen.
Noch jahrzehntelang fehlte er in keinem Schullesebuch, in nahezu jedem Haushalt stand eines seiner Werke. In der Stadt Zürich wurde schon kurz nach
seinem Tode im Quartier Wiedikon eine Strasse nach ihm benannt. Die Meinrad-Lienert-Strasse war zwar lange Zeit keine prestigeträchtige Adresse, aber dank Umfahrung und Gentrifizierung zählt sie heute mit ihren Bars und ­Restaurants, Galerien und Shops zum Trendquartier Lochergut – doch des Schriftstellers Werk ist der Vergessenheit ­anheimgefallen.

Anlass zur literarischen Wiederentdeckung bietet die Reihe «Schweizer Texte» im Zürcher Chronos-Verlag, die als Band 57 den Roman «Der doppelte Matthias und seine Töchter», den Lienert 1929 herausbrachte und der 1941 unter der Regie von Sigfrit Steiner verfilmt wurde, neu aufgelegt hat. Herausgeber Lukas Künzler, Historiker und Literaturwissenschaf­ter von der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf der Universität Bern, weiss auch, wie man dem urbanen Menschen Heimatliteratur schmackhaft macht. «Vieles, was heute hip ist, war bereits einmal in Mode und wird wieder neu entdeckt.»

Eigenwillig und stark

Warum also nicht unvoreingenommen zu Lienert greifen und sich überraschen lassen, denn im «Doppelten Matthias» stellt er die traditionelle Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts in burlesker Weise auf den Kopf und erzählt eine Brautschaugeschichte unter umgekehrtem Geschlechtervorzeichen.

Fünf eigenwillige und lebenstüchtige Bergbauerntöchter, die auf dem abgelegenen Hof ihres verwitweten und unbeholfenen Vaters Matthias Stump aufwachsen, wehren nicht nur schmalbrüstige Verehrer ab, sondern mit vereinten Kräften auch andere Eindringlinge, die es wagen, die Marken des Ruchegg-Hofes zu übertreten. Wobei es zu handgreiflichen Spässchen und unzimperlichen Spielchen zwischen den Geschlechtern kommt. Doch frönt Lienert weder dem seichten Komödiantentum, noch war er ein heimattümelnder Schriftsteller, ­dessen Werk sich von der Geistigen Landesverteidigung politisch instrumentalisieren liess.

Die fünf Bauerntöchtern sind eher das Gegenteil der perfekten Schweizer Frau, wie sie in der Figur der «Gilberte de Courgenay» idealtypisch zum Ausdruck kommt. Sie machen ihre Bedürfnisse mit Nachdruck geltend. «Es ist sicher ein Frauenbuch und für feministische Leserinnen interessant», verdeutlicht Lukas Künzler. «Die Protagonistinnen lassen sich nicht durch gesellschaftliche Normen ein­engen und entsprechen keineswegs heteronormativen, gesellschaftlichen Zwängen, sie durchbrechen sie ja geradezu.»

Dichter und Journalist

Meinrad Lienert, am 21. Mai 1865 in Einsiedeln geboren, studierte an der Universität Zürich Rechtswissenschaften, wechselte in den Journalismus und baute gleichzeitig seine schriftstellerische Tätigkeit aus. Seine Bücher mit Gedichten und Erzählungen und dem Klassiker «Schweizer Sagen und Heldengeschichten», die ab 1891 erschienen, fanden eine begeisterte Leserschaft. 1899 zog er mit seiner Familie vom Kanton Schwyz ins liberale Zürich und fand schnell Anschluss an die literarischen Kreise, wurde von der NZZ und dessen Feuilleton-Redaktor Carl Spitteler sowie vom Lesezirkel Hottingen gefördert. 1919 verlieh ihm die Universität Zürich die Ehrendoktorwürde, ein Jahr später erhielt er das Bürgerrecht der Stadt Zürich.

Doch nach einem Vierteljahrhundert in Zürich musste er 1923 aus finanziellen Gründen sein Häuschen am Zürichberg verkaufen, zog wieder nach Einsiedeln, aber 1929 erneut zurück an den ersehnten «blauen See» nach Küsnacht. In den historischen, leuchtend gelben Grebelhäusern am Hornweg 14/16, just am Seeufer, wohnte er seine letzten vier Lebensjahre zusammen mit seiner Frau Marie in der Parterrewohnung.
Die Neuausgabe von «Der doppelte Matthias und seine Töchter» vermag ­seinem Werk wieder einen neuen Glanz verleihen – und dies nicht bloss zur literaturhistorischen Pflege.