Eine perfekte Familie

Erstellt von Peter Meier |
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Ich sitze mit meiner Frau in einer Pizzeria in Italien. Am Nebentisch nimmt eine andere Schweizer Familie Platz. Landsleute werden plötzlich interessanter, wenn man ihnen im Ausland begegnet. Offensichtlich Basler – ein Dialekt, den man schon an der Sprachmelodie erkennt, auch wenn man nichts versteht. Diese Familie versteht man aber gut; sie fühlen sich unbeobachtet – oder mindestens unverstanden, und unterhalten sich unschweizerisch ungeniert. Sie halten uns wohl für Italiener oder so.

Da sich das Geschehen in meinem Blickfeld abspielt, nehme ich quasi unfreiwillig, aber mit zunehmender Faszination an ihrem Familienleben teil. Eltern und vier Kinder, so zwischen 8 und 16 Jahren, zwei Töchter, die älteste und die jüngste, dazwischen zwei Söhne. Vielleicht eine Patchwork-Familie? Ich denke nicht – da ist eine auffallende Harmonie und Vertrautheit. Sie platzieren sich so, dass neben jedem Kind ein Elternteil sitzt. Es wird viel gelacht – und sich viel berührt. Beim Unterhalten schauen sie sich liebevoll lächelnd an, legen dabei die Hand auf den Arm des anderen. Und es sind alle so adrett – eine Bilderbuchfamilie! Die ältere Tochter, bei der sich die Hormone schon so richtig ausgetobt haben, hat beim Outfit den perfekten Kompromiss zwischen freizügig und grad noch eltern-kompatibel gefunden. Und sie ist so überhaupt nicht teenie-mässig misslaunig drauf, kümmert sich liebevoll um ihre kleine Schwester und unterhält sich blendend mit den Eltern. In mein Interesse mischt sich neben Bewunderung zunehmend eine Spur Misstrauen. Oder ist es gar Missgunst?

Die zierliche Mutter spricht von ihren Geburten. Ihr Mann schaut sie dabei verliebt an. So eine richtige Profi-Mama, denke ich. Das Verhalten aller Familienmitglieder ist höflich-zurückhaltend, einfach tadellos. Das Nesthäkchen, ein eher stilles, ausgesprochen hübsches Mädchen, beobachtet immer wieder mit einer rührenden Mischung von Neugier und Schüchternheit unseren Hund und kontrastiert dabei wohltuend mit ein paar vorlauten Kindern anderer Gäste.

Beim Aufstehen montieren alle pflichtbewusst ihre Masken. Der Vater macht noch eine Kontrollrunde, zupft mit kritischem Blick das Tischtuch zurecht und stellt alle sechs Stühle akkurat an den Tisch. Sie verlassen das Lokal im Gänsemarsch, freundlich in die Runde nickend.

Das wurde mir nun doch etwas zu viel des Guten. Gibt es so etwas wirklich? Ich malte mir maliziös-genüsslich aus, welche Leichen im Keller dieser Familie liegen könnten. Oder vielleicht lesen wir demnächst in der Zeitung die Aussage eines schockierten Nachbarn: «Aber sie haben doch immer so einen harmonischen Eindruck gemacht!» Meine Frau sagte mir, ich sei ein schlechter Mensch. Vielleicht hat sie ja recht. Aber immer noch besser, als dass ich an meiner eigenen geliebten Familie zu zweifeln beginne ...