Susanna Ackermann-Wittek ist pensionierte Pflegefachfrau und leidenschaftliche Märchenerzählerin. Hinter dem Erzählen ohne Buchvorlage steckt viel Arbeit. Die Engemerin hat sich ihre Erzählkunst in einer Ausbildung angeeignet.
In Chur zwischen den Bergen aufgewachsen, kam Susanna Ackermann-Wittek bereits als Kind in Kontakt mit der Geschichten- und Märchenwelt. Ihre Mutter und ihr Vater, ein Bergsteiger, nahmen sie und ihre zwei Geschwister oft auf Wanderungen mit, während dener der Vater immer – um ihnen den Weg zu erleichtern – Geschichten, die er recht farbig ausschmückte, zum Besten gab.
Heute ist Susanna Ackermann-Wittek pensionierte Pflegefachfrau. Fast vierzig Jahre lang arbeitete sie in verschiedenen Fachgebieten mit Erwachsenen und Kindern. Dank ihrer Ausbildung und ihres kommunikativen Wesens konnte sie von jeher gut mit Menschen, gross und klein, umgehen. Vor der Pensionierung war sie Leiterin Pflege der Klinik für Geburtshilfe am Universitätsspital Zürich. Seit fünfzehn Jahren ist sie Mitorganisatorin der überkonfessionellen Gedenkfeier für verstorbene Kinder in Zürich, die von den Landeskirchen des Kantons Zürich und weiteren Sponsoren unterstützt wird.
Erzählen ist nicht gleich vorlesen
Beim Besuch von «Zürich 2» in ihrem Zuhause in der Enge, wo sie seit 37 Jahren mit ihrem Ehemann Jürg wohnt, war selbst das Zuhören beim Schildern ihrer persönlichen Geschichte ein Vergnügen. Was Ackermanns Leben heute ausfüllt, ist das Erzählen von überlieferten Märchen. Aber es besteht ein grosser Unterschied zwischen Märchen vorlesen und Märchen erzählen. Beim Letzteren ist es die mündliche Wiedergabe, die vorab fein säuberlich einstudiert wird. Dazu wählt Ackermann – oft saisonal – ein Thema aus einem Buch in der Bibliothek, aus der eigenen Sammlung oder aus der Märchendatenbank. Beim Lesen reduziert sie die Geschichte, indem sie sich Notizen macht, die sie dann in eine Bildsprache umsetzt. Diese gezeichneten Bilder prägt sie sich einzeln ein und gibt sie dann in Mundart aus dem Kopf den Zuhörenden wieder.
Hinter dem Erzählen ohne Buchvorlage steckt viel Arbeit. Diese Erzählkunst hatte sie sich in einer zweijährigen Ausbildung mit Zertifikat an der Schule für Märchen und Erzählkultur Mutabor im Emmental angeeignet. Um diese Kunst zu vertiefen, bietet Mutabor viele weitere Seminare im Märchenbereich an.
Märchen sollen Seele guttun
Laut Ackermann sei die Arbeit mit Märchen wertvoll und tue der Seele gut. Das würde sie gerne ihrem Publikum vermitteln. Es sei erwiesen, dass regelmässiges Erzählen sich positiv auf kranke Kinder und pflege-bedürftige Erwachsene auswirkt. Ackermann erzählt ihre Geschichten an vielen Anlässen: an Schulen, an Weihnachts- und Adventsfeiern, in Pflege- und Altersinstitutionen. Die Themen sind vielfältig, oft handeln sie von Tod, Trauer, Armut, Hunger, Krieg, aber auch von Liebe, Glück und Freude. Wenn sie diese Themen anschneide, sehe sie, dass die alten Menschen das früher Erlebte wiedererkennen. Sie betonte: «Es macht mich überglücklich, wenn ich Kinder in die Welt der Märchen mitnehmen, demente Menschen zu Tränen rühren, ihnen ein lächelndes Erkennen ins Gesicht zaubern und sie vor Freude in die Hände klatschen sehen kann.»
Hinter Märchen steckt mehr
Diese Erzählkultur erinnert an die fast verschwundene Hörspielkultur, die den Zuhörenden einen Ausflug in die Fantasiewelt vermittelte und sie ihren Träumen überliess. Nicht zu vergessen das Chasperlitheater, als die Kinder bei jeder Aktion begeistert mitmachten. Doch wer braucht heute schon Fantasie, wenn die Gedanken und Gefühle mit einfachen Klicks auf Emojis (kleine Piktogramme, die vor allem in Chats oder per SMS verwendet werden) in jeder Lebenslage ausgedrückt werden können?
In Märchen steckt viel mehr als «Es war einmal» und «Wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch». Märchen sind international verbindend und Jahrhunderte überdauernd. Weltweit gibt es in vielen Ländern die Erzähler wie zum Beispiel die Griots in Westafrika, die ihre Geschichten singend vortragen, instrumental untermalen und damit durchs ganze Land ziehen. Die Motive ändern sich nicht, sie werden nur anders erzählt. Und es bleibt immer unblutig.
Auch wenn meistens die niedrigen Eigenschaften des Menschen wie Habgier, Missgunst und Bosheit thematisiert werden, überwiegen immer die guten: die Menschlichkeit, das Gefühl für Freundschaft und die Empathie. Dazu kommt eine grosse Prise Magie, die dann schliesslich das Märchen ausmacht. Der Mensch wünscht sich immer ein Happy End, und das bekommt er. Es ist wichtig zu zeigen, dass das Gute über das Böse siegt.
Wie jedes Jahr seit 2008 findet das Projekt der Mutabor-Märchenstiftung «Märchenzeit» statt; 2019 unter dem Motto «Wunsch und Wirklichkeit». Dieses Projekt wird im Rahmen des von der UNO aus-gerufenen «Jahres der Mässigung» organisiert. Susanna Ackermann-Wittek wird sich in ihren Auftritten Ende Januar, Februar und März im Kleintheater «Das offene Wohnzimmer» im Quartiertreff Enge mit Märchen für Erwachsene diesen Themen widmen. Es wird sich alles um das Wünschen und das Verlieren drehen. (Jeannette Gerber)
Märchen für Erwachsene, musikalisch mit Flöte begleitet von Andy Pearson: 29. Januar, 26. Februar und 26. März jeweils 20.15 bis 21 Uhr. Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20. Anmeldung per Mail unter: susanna.ackermann@bluewin.ch. Eintritt gratis, Kollekte.