Fallätsche lässt sich im Alter bezwingen

Zurück

Die gefährlichste Wand von Zürich – die Fällatsche – lässt sich auch von Wanderern im fortgeschrittenen Alter bezwingen. Ein persönlicher Erfahrungsbericht eines selbsterklärten Uetliberg-Nostalgikers.

Anruf von Bernhard, einem mir um drei Ecken und etwas Vergangenheit bekannten Wollishofer, Leimbacher und routinierten Berggänger: «Morgen queren wir die Fallätsche – kommst du mit?» Womit die Sache geritzt wäre. Ich vertraue auf meine neuen Bergschuhe aus Yakleder. Die tibetischen Yaks pflegen nämlich die Steigungen in der Fall-Linie zu bewältigen, Im steilen Aufstieg – der Name «Steile Wand» kommt ja nicht von ungefähr – wird sich dies bestimmt auf meine Schuhe übertragen und als Segen erweisen. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen, ich werde dieses Rutschgebiet bezwingen – was ich letztes Jahr nicht schaffte. Bernhard hat meinen damaligen Bericht im «Zürich 2» gelesen und sich gedacht, das gebe es ja nicht, die Fallätsche sei schliesslich nicht die Eiger-Nordwand und für mich als alten Uetli-Nostalgiker sicher zu bezwingen. Unter seiner Führung, versteht sich.
«Mein Gott, das Bristenstäfeli»
Wir – das heisst Bernhard, seine Partnerin Irène, Tom, Yasmin und ich – starten von der Leimbacher Maneggpromenade aus. Bald schluckt uns der Wald mit seiner angenehmen Morgenfrische und wir stossen auf den Rütschlibach, wo sich der glitschige Teil ankündigt. Bald erscheint eine in die Jahre gekommene Hütte am Rand der Fallätsche und mir fährt der Schreck in die Knochen: «Mein Gott, das muss das Bristenstäfeli sein, einst die schönste Hütte am Rande der Fallätsche!» Allerdings sind seit meinem letzten Besuch rund fünfzig Jahre ins Land gegangen – der Zahn der Zeit tut seine Pflicht. Die noch bängere (sorry – aber seit Wilhelm Busch kann man bang steigern) Frage: «Wirkt dieser vermaledeite Zahn auch bei mir?». Wer über mehr als siebzig Jahrringe verfügt und trotzdem die Natur geniesst, auch wenns anstrengend ist, hat schon des Öfteren den saudummen Vorwurf gehört: «Du bist nicht mehr zwanzig.» Als ob man dies nicht selber wüsste. Meine messerscharfe Antwort lautete dann jeweils: «Stimmt, aber ich bin halt wie Butter, von Natur aus vollendet.» (O-Ton der Butterwerbung.) So viel Selbstbewusstsein verleiht auch in der Fallätsche Flügel; munteren Schrittes folge ich Tourenleiter Bernhard, der über zwei Jahrringe mehr verfügt als ich. Jetzt rinnt der Schweiss, die Sonne beschert uns den heissesten Junitag. Trotz meiner vollendeten Natur frage ich mich, weshalb ich meine Zürich-Nostalgie nicht im See auslebe. Jetzt biegt Bernhard in die eigentliche Fallätsche ein, ich glaube Richtung Südwest, oder Südost? Himmelsrichtungen sind halt Glückssache. Der Weg versteckt sich unter Gras und Büschen, wo sich auch die Feuchtigkeit hält – und die Rutschgefahr lauert. Wo die gelbbraune Erde zum Vorschein kommt, ist sie steinhart – Rutschgefahr zum Zweiten. Autsch – mein Kopf! Das kommt davon, wenn man den Boden fixiert und nicht auf die zahlreichen Bäume achtet. Bernhard hält an. «Wie wärs mit dem Seil», fragt er mich und hängt gleich an: «Ich glaube, es wäre sicherer.» So, nun wandere ich zwischen Tom, dem erfahrenen Alpinisten, und Bernhard, gesichert am Gebirgsseil. Es geht weiter, auf und ab, hin und wieder stoppe ich, weil Bernhard vorne zieht und Tom hinten bremst. Irène und Yasmin plaudern locker beim Wandern – über die Flora, über die Klettertour auf den Kleinen Mythen, die Yasmin für das Wochenende plant. Die beiden Frauen betrachten die Fallätsche offenbar nicht als Gefahrenherd und verzichten auf die Seilsicherung. Erstaunlich, da hängt doch plötzlich ein neueres Seil an einem Baum, eine Hilfe, um die kritische Stelle zu bewältigen. Das Seil hätten Fallätschenfreunde angebracht, um ihren Kollegen die Traverse an einer kritischen Stelle zu erleichtern, lasse ich mich belehren. Denn seit einigen Jahren pflegt die Stadt die Wege in diesem Rutschgebiet nicht mehr; sie will diese Zone dem Wild überlassen, ungestört von Wanderern. Den Schutz der Tierwelt halte ich übrigens für eine edle Sache, ich bin ja auch ein Tier- und Naturfreund, aber die Fallätsche will ich trotzdem traversieren. Ein wenig Schizophrenie wird die Natur wohl tolerieren.
Von Jodlern besungen
Wir haben es geschafft. Vor uns, auf einem Felsen, grüsst die (abbruchreife) Glecksteinhütte; die fünfzig Jahre seit meiner letzten Begegnung sind auch an ihr nicht spurlos vorbeigegangen. Jaja, der Zahn der Zeit… Kurz darauf stossen wir auch auf die Alpinahütte samt Plumpsklo. Letzteres ist allerdings nur eine Vermutung, denn ich habe auf eine Besichtigung des Häuschens verzichtet. Meine Recherchen ergeben, dass vor Jahrzehnten das Jodeldoppelquartett Alpina von hier aus den Uetliberg samt Wanderern besungen hat.
Es geht weiter, nicht gerade in der Falllinie, aber nahe daran, vorbei an Eiben ohne Schnuderberi und Stechpalmen. Wir erreichen den Grat. Eine megacoole Tour für den Oldie – dank einem Tourenguide mit Gebirgsseil.
Eine Woche später stellt sich die geistige Läuterung ein: Die Wanderung war topp, doch ich fühle mich nicht mehr wie die «von Natur aus vollendete Butter». Diese Einsicht habe ich der Fallätsche zu verdanken, unterstützt allerdings von Onkel Doktor, der mir etwas mehr Distanz zur Butter empfohlen hat – wegen des bösen Cholesterins. (Urs von Tobel)