Gemeinsam Oerlikon entdecken

Erstellt von Karin Steiner |
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Zum Auftakt des zweiten «Kultur-Festival inklusiv» organisierte «sichtbar Gehörlose Zürich» einen Rundgang durch Oerlikon. Die Historikerin Anita Ulrich wusste viel über die spannende Geschichte des Quartiers zu erzählen.

Seit über 50 Jahren hat das Gehörlosenzentrum seinen Sitz in Oerlikon. «Aber viele Quartierbewohnerinnen und -bewohner wissen das nicht», sagte Andreas Janner, Geschäftsführer von «sichtbar ­Gehörlose Zürich». So wurde das «Kultur-Festival inklusiv» ins Leben gerufen mit dem Ziel, gehörlose, schwerhörige und hörende Menschen im Rahmen von kulturellen Anlässen zusammenzuführen und miteinander ins Gespräch zu bringen. 2019 fand das erste Festival statt, dieses Jahr folgt die zweite Durchführung mit verschiedenen, über das Jahr verteilten Anlässen.

Vom Dorf zur Stadt

Den Auftakt machte eine Führung durch das Quartier mit der Historikerin Anita Ulrich, Vorstandsmitglied des Ortsgeschichtlichen Vereins Oerlikon. Begleitet wurde sie von der Gebärdendolmetscherin Janine Griblez und der Projektleiterin Lilly Kahler, die mit einem pinkfarbenen Windrad den Gehörlosen den Weg wies. Bevor die stattliche Gruppe zum Rundgang aufbrach, fasste Anita Ulrich kurz die bewegte Geschichte des Quartiers vom kleinen Dorf zum wichtigen Indus­triestandort mit internationaler Ausstrahlung zusammen.

Der Aufschwung begann mit dem Bau des Bahnhofs an der Linie der Schweizerischen Nordostbahn. Die Nähe zu den optimalen Transportverbindungen hatte zur Folge, dass sich eine grosse Elektro- und Maschinenindustrie hinter dem Bahnhof ansiedelte, darunter auch die damals weltberühmte Maschinenfabrik Oerlikon (MFO). Es entstanden Tausende neuer Arbeitsplätze, und entsprechend musste in und um Oerlikon Wohnraum für die aus der ganzen Schweiz, aber auch aus Deutschland und Italien eingewanderten Arbeiterinnen und Arbeiter geschaffen werden.

Fünf Schulhäuser in 20 Jahren

Der Rundgang begann bei der reformierten Kirche auf dem Gubelhang. Diese wurde zwischen 1906 und 1908 nach Plänen von Adolf Asper und Gustav Gull gebaut. An derselben Strasse entstanden innerhalb von 20 Jahren fünf Schulhäuser, wobei der Baustil sich in dieser Zeit stark verändert hat – von den an eine Fabrik erinnernden Backsteinhäuser der Schulhäuser Halde A und B bis zum prunkvollen, neuklassizistischen Oberstufenschulhaus Liguster.

Weiter ging die Tour zum Sportplatz, der zum Schulhaus Liguster gehört und vom ganzen Quartier rege benutzt wird.   Beim Garderobenhaus am Rand des Ligusterwäldchens – ein letztes Überbleibsel aus einer Zeit, als grosse Wälder das Gebiet überzogen – sticht eine überlebensgrosse Bronzplastik mit dem Namen «Der Geher» ins Auge. «Diese Skulptur stammt von Franz Fischer», erzählte Anita Ulrich. «Sie hat 1939 an der Weltausstellung in New York eine Goldmedaille gewonnen. Doch bei den Lehrern gab es einen Aufstand. Sie fanden die nackte Männergestalt unzumutbar für die Kinder und Jugendlichen.»

Neu-Oerlikon – eine andere Welt

Nach dieser amüsanten Geschichte wanderte die Gruppe über die Gubelhangstrasse mit ihren prächtigen Sichtbacksteinvillen hinunter zum Marktplatz. ­Bevor Anita Ulrich die Geschichte des Marktplatzes vom einstigen «Pflanzblätz» über einen Parkplatz bis zum heutigen beliebten Treffpunkt schilderte, gab es noch einen Abstecher in die Gubelstrasse. Hier entstand in den 1893er-Jahren ein Wohnquartier mit Villen in verwunschenen Gärten auf der einen Strassenseite und stattlichen Mehrfamilienhäusern auf der ­anderen Seite. «Was an diesen Häusern auffällt, sind die reichhaltigen Verzierungen an der Fassade», so Anita Ulrich. «Diese Verzierungselement konnte man bestellen und frei zusammensetzen. Sie befinden sich nur auf der Strassenseite, die Rückseiten der Häuser blieben kahl.»

Durch die Unterführung beim Bahnhof gelangte man schliesslich in eine neue, ganz andere Welt. Auf dem einstigen Industriegebiet entstand um die Jahrtausendwende ein neues Wohnquartier mit verschiedenen Parkanlagen. Doch ein paar Monumente zeugen noch von der glanzvollen Industriegeschichte Oerlikons. Neben den ABB-Hallen fällt vor allem das ehemalige Direktionsgebäude der MFO aus. «Es wurde 1889 gebaut und ist das älteste Gebäude vor Ort», so Anita Ulrich. Zu Weltruhm gelangte der 80 Meter lange Bau, als er wegen des Ausbaus der Gleisanlage für die Durchmesserlinie um 65 Meter verschoben werden musste.  Eigentlich sollte das Gebäude abgebrochen werden. Doch aufgrund heftiger Proteste aus der Bevölkerung kam das gewagte Unternehmen zustande. Der nächste Halt war im MFO-Park, der die Grösse einer einstigen Lagerhalle hat und derzeit noch etwas kahl wirkt. «Im Sommer, wenn alles blüht und duftet, lohnt sich ein Gang hierher auf jeden Fall», schwärmte die Historikerin. Der MFO-Park, der mit seinem Pflanzenwuchs im Sommer angenehm Schatten spendet, hat schon verschiedene Preise gewonnen.

Letzte Station des Rundgangs, an der ein kleiner Apéro auf die Teilnehmenden wartete, war der Oerliker Park mit seinem auffälligen Aussichtsturm. Vor dem Glasgebäude «Torro» sollte eigentlich eine Baumallee entstehen. Doch die 1000 gepflanzten Eschen starben ab, und so präsentiert sich dieser Park mitten in dem stark besiedelten Gebiet eher kahl.