Geschichten aus dem Asphalt-Dschungelbuch

Erstellt von Andreas Sauter |
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Für Abenteuer StadtNatur hat das Junge Literaturlabor (JULL) gleich zwanzig Kinder ausgeschickt, nämlich vom Schulhaus Schanzengraben. Auftrag: Findet heraus, was eigentlich an Zürichs berühmtester Allee so alles wächst – an der Europaallee beim Hauptbahnhof.

So haben sich die Schülerinnen und Schüler der 4. bis 6. Klasse der Lehrerinnen Alexandra Schalch und Sara Zweifel an einem nasskalten Frühlingstag auf Erkundungstour gemacht. Gecoacht wurde die Schreibpfadfindergruppe vom Autor Andreas Sauter, der das Projekt im Auftrag des JULL als Schreib­coach begleitet. Mit Kreiden, Feldstecher und Lupe pirschten sich die Kinder von der Sihlpost die ganze europäische Allee hinunter bis zur Langstrasse. Ihr erster Eindruck? Häuser, Häuser, Häuser; Glasfassaden und seeeeehr viel Stein! Und, oh Schreck: Schneeflocken! Aber was sahen die Kinder auf den zweiten Blick? Nun, das erzählt der folgende Zusammenschnitt aus den vielen Dutzend Texten der kleinen Schanzengraben-Poetinnen und -Poeten.

1. Klein und allein

Auf meinem Foto sieht man eine kleine, einsame Pflanze, die neben einer trockenen Baumwurzel steht. Ich nenne sie «Klein und allein», denn es gibt nichts um sie herum. Ausser Zigarettenstummel und Kies. Keine andere Pflanze, keine Blume. Die einsame Pflanze sieht traurig aus, weil es regnet. Sie wächst in ­einer Vertiefung. Zwischen zwei Platten. In einer Art Vorhangschiene. Was man auf meinem Gedankenfoto nicht sieht, ist das Drumherum. Im Drumherum sieht man Gebäude, Gegenstände, Vögel, Bänke, Autos. Und nur ein paar Schritte weiter eine Art Moos.

Ein Vogel fliegt in einen Mauerspalt im Haus. Züge rattern hinter meinem Rücken vorbei, kommen an oder fahren ab. Das hört sich sehr unterschiedlich an. Vom Brunnen, der eigentlich eine nachgemachte Pfütze ist, schwappt immer wieder Wasserplätschern herüber. Es riecht nach Essen und Benzin. Über mir Wolken. In der Nacht verwaist der Platz. Die Bänke, die Büros, die Restaurants. Stelle ich mir so vor. Es würden Lampen leuchten, über der Bar die Lichterkette, der Himmel wäre schwarz und alles würde still sein, denn die Vögel schliefen. Man würde die Strasse nebenan nicht riechen. Keine Autos hören auf dem Asphalt, es würde keine Ampeln geben, die von Rot auf Grün schalten.

2. Wenn das sparrige Kranzmoos vereist

Im Winter wird der Boden mit Schnee bedeckt, der Himmel wird grauer, die Menschen launischer, die Pflanzen kämpfen ums Überleben. Im Sommer aber blühen sie auf. Die Leute lächeln, der Himmel ist blau, die Pflanzen leuchten grün. Auf den Dächern der Gebäude Schnee. Ein Windstoss wirbelt ihn hoch, bläst ihn vom Dach, er fällt auf die Blume. Er ist schwer und warm. Eiszapfen wachsen am Dachfirst. Nach zehn Tagen mit Schnee gibt es immer noch mehr Schnee. Und mehr Schnee. Das sparrige Kranzmoos vereist. Das Hirtentäschchen, der Löwenzahn, das immergrüne Rüsselblatt. Auch Tussilago Huflattich mit seinen Stöckelschuhen steckt im Schnee.

Der Platz ist leer. Keine Menschen gehen vorbei. Nur ein Mann ist da. Er trägt einen braunen Mantel und Winterstiefel. Mit roten Schnürsenkeln. Kurz bleibt er stehen, guckt hinter sich, als hätte er etwas gehört, geht weiter. Möchte nach Hause gehen wollen. «Hey, hier!», ruf ich. «Hier unter dem Schnee bin ich!»Doch der Einzige, der mich bemerkt, ist der dumme, aufgeweichte Zigarettenstummel neben mir.

3. Cardamines Schaumkraut träumt von einer Wiese

Psst, das Cardamine Schaumkraut träumt! Wird wahrscheinlich vom Frühling träumen. Von einer Wiese. Von mehr Platz. Von einem Park. Von ­einem Wald, an dessen Rand es wohnt. Mit vielen andern. Ich wäre nicht mehr allein. Ich könnte mich ausbreiten, wachsen und wachsen, immer weiterwachsen, im Gegensatz zu hier, am Strassenrand, in der Rille zwischen zwei Platten, zwischen Hochhäusern und spiegelnden Fenstern. Im ersten Stock ein zähneputzender Mann, im Erdgeschoss unter ihm ein Brillengeschäft. Ein Tram quietscht, auf der Pfütze im Wasser Ringe. Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Gehöre ich überhaupt hierhin? Wohin gehöre ich? Zu wem?