Zürich hat heute zu viele Kirchenräume im Verhältnis zur sinkenden Anzahl Kirchenmitglieder – zumindest bei den Reformierten. Trotzdem will die reformierte Kirchgemeinde Hirzenbach in Schwamendingen eine neue Kirche und gleichzeitig Wohnungen bauen. Kann das aufgehen?
Es ist Dienstagmittag vor dem Areal der Kirchgemeinde Hirzenbach. Gegen 40 Bewohner der umliegenden Nachbarschaft sind auf dem Weg zum Mittagstisch im Saal. Als Torbogen vor dem Betreten des Areals direkt neben dem freistehenden Kirchturm steht eine provisorisch gelegte Starkstromleitung, die die auf Nachbarsgrund gelegene Baustelle mit Strom versorgt. Nebenan das bewohnte Pfarrhaus. Kurz nach 12 begrüsst Sigrist Roger Föhn die eingetroffenen Gäste und serviert mit Hilfe mehrerer Freiwilliger im Saal das Mittagessen. Salat, Suppe und einen sommerlichen Melonen-Schinkenteller garniert. Anschliessend einen Nachtisch und Kaffee. Das ganze Mittagsmenü gibt es für günstige 10 Franken.
Dies ist nur eines der Angebote der Kirchgemeinde. Diese werden von verschiedensten Menschen genutzt, egal welcher Glaubensrichtung. Im Keller des Gebäudes hat sich die Cevi Schwamendingen eingerichtet und nutzt die Räumlichkeiten. Cevi, das ist eine christliche Jugendbewegung.
Steigende Ansprüche
Im Laufe der Jahre hat sich die Rauminfrastruktur allerdings für die heutigen Ansprüche als nicht mehr zweckmässig erwiesen, heisst es von den Verantwortlichen. Saal und Kirche lassen sich nicht gleichzeitig nutzen, da sie nur von der schalldurchlässigen Faltwand abgetrennt sind. Die Akustik in der Kirche ist für die sonntäglichen Gottesdienste mit Band-Begleitung, nicht mehr genügend. Die Infrastruktur der Küche stösst bei grösseren Anlässen an ihre Grenzen.
Sigrist Roger Föhn sieht bei der Nutzung der Kirchenräume in Zukunft einen Engpass: «Die Kirchgemeinde Hirzenbach darf sich seit längerer Zeit über eine zunehmende Zahl von Gottesdienstbesuchern und der sonstigen kirchlichen Angebote freuen, speziell über junge Menschen. Auch in Zukunft möchten wir für unsere verschiedenen Angebote ausreichend Platz zur Verfügung haben. Das laufende Projekt Stefansviertel der Kirchgemeinde Hirzenbach soll dies sicherstellen.» Projekt Stefansviertel? Davon später. Zuerst ein Blick auf den Alleingang der Kirchgemeinde Hirzenbach.
Kirche Hirzenbach wollte nicht
Bei der 2019 erfolgten Zentral-Struktur der reformierten Kirche Stadt Zürich sind nur zwei Kirchen dem gesamtheitlichen Zusammenschluss zur reformierten Kirche Zürich nicht gefolgt. Es sind dies die Kirchgemeinde Witikon und die Kirchgemeinde Hirzenbach. Der Umstand, dass der Gottesdienst bei einem Zusammenschluss alternierend in der reformierten Kirchen Schwamendingen-Mitte und der reformierten Kirche Saatlen hätte stattfinden sollen, kam bei den Kirchenmitgliedern von Hirzenbach nicht gut an.
Als Folge blieb die Kirchgemeinde Hirzenbach alleinige Eigentümerin ihres Grundes zwischen Luchswiesenweg und Altwiesenstrasse und kann über dessen künftige Verwendung auch selbst entscheiden. Das Vorhaben Stefansviertel hätte laut Experten wohl nach einem Anschluss zur reformierten Kirche Zürich heute einen anderen Stand und wäre nicht ohne langwierige und komplizierte Prozesse machbar gewesen. Die Kosten des geplanten Viertels wurden von einer externen Firma auf zwischen 20 und 35 Millionen Franken beziffert.
Finanzieren sollen das Projekt das aktuelle Vermögen der Kirchgemeinde sowie das dazugehörende Bauland. Der Unterhalt des Gebäudes deckt sich durch die Mieteinnahmen. Die laufenden Betriebskosten werden aus anderen Quellen gedeckt werden, schreibt die Kirchgemeinde auf der Internetpräsenz des geplanten Stefansviertels. Geht alles den geplanten Gang, muss die Stimmbevölkerung der reformierten Kirche Zürich Hirzenbach das Projekt an der Urne noch gutgeheissen und die zuständigen Behörden eine Baubewilligung erteilen. Darin sehen der Kommunikationsverantwortliche der Kirchgemeinde Hirzenbach, Benjamin Bucher, und Stefan Girsberger, Mitglied der Arbeitsgruppe Stefansviertel, aber kein Hindernis.
12 Architektenteams involviert
Zwölf Architektenteams brüten diese Tage darüber, wie ein künftiges Stefansviertel in Hirzenbach aussehen könnte. Platz dafür gibt es genug. 4000 Quadratmeter umfasst der Boden, der im Besitz der Kirchgemeinde Hirzenbach ist. Aus den Unterlagen des Projektwettbewerbs geht hervor, welche Anforderungen für die Überbauung gelten.
Die Kirchgemeinde Hirzenbach als Bauherrin wünscht sich dabei verschieden Lebensräume, die sie im Projektbeschrieb metaphorisch als menschliche Organe definiert. So soll sinnbildlich das Herz des Stefansviertels als Raum für öffentliche Begegnungen und verträumtes Verweilen dienen. Die Lunge soll ein Auditorium als moderner Kirchraum sowie einer Kapelle sein. Die Muskeln stehen sinnbildlich für die aktiven Räume mit Kinderräumen und Spielplatz, Band- und Jugendraum sowie Stube mit Essküche. Als Hirn des Stefansviertels sollen Seminarräume, Kreativräume sowie Coworking-Spaces entstehen.
Ausstellung im Oktober
Der Magen steht für eine entsprechende Gastroküche und den Esssaal. Die Leber bilden die geplanten 35 bis 40 Wohnungen, die die Kirchgemeinde Hirzenbach im Stefansviertel vermieten will und somit in Zukunft auch für Einnahmen für die Kirchgemeinde sorgen soll. Als Haut und umschliessendes Organ soll eine einladende Umgebung mit verschiedenen Aussenraumbereichen für eine gastfreundliche Atmosphäre sorgen. Bis im Herbst dieses Jahres wird die Jury, bestehend aus drei Mitgliedern der Kirchgemeinde sowie vier Architekten als Fachspezialisten, Zeit haben, die eingegangenen Pläne und Modelle der Architektenteams zu studieren und zu beurteilen. Im Oktober werden die Pläne und Modelle öffentlich ausgestellt.
Im Gespräch erzählen Benjamin Bucher und Stefan Girsberger, zwei der Verantwortlichen für das Projekt Stefansviertel, wieso es sich in Zeiten rückläufiger Mitgliederzahlen der reformierten Kirche dennoch lohne, in der Stadt Zürich neue Kirchenräume zu schaffen. Den beiden ist dabei wichtig, zwischen der Anzahl aktueller Kirchenmitglieder auf dem Papier (Steuerzahler) und Menschen, die sowohl aktiv engagiert sind, als auch die Angebote der Kirchgemeinde Hirzenbach wie etwa den Mittagstisch nutzen, zu unterscheiden. Sie möchten nicht leugnen, dass die Mitgliederzahlen auch in der Kirchgemeinde Hirzenbach rückläufig sind, dennoch betonen sie, dass ihre Kirchenangebote rege genutzt werden: «Nicht jeder oder jede, die sich bei uns in der Kirchgemeinde ehrenamtlich engagiert oder unsere Angebote nutzt, ist auch Mitglied der reformierten Kirche Zürich Hirzenbach und die Besucherzahl unserer Gottesdienste ist in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen», findet Benjamin Bucher.
Viertel statt Zentrum
Während der Pandemie sorgte ein Livestream dafür, dass die Menschen den Gottesdienst von zu Hause aus mitverfolgen konnten. Für den Projektverantwortlichen Stefan Girsberger ist es zentral, wie das Vorhaben eines Stefansviertel auf die Menschen wirkt. Girsberger verwendet lieber den Begriff Kirchenviertel als Kirchenzentrum, da die Angebote des Stefansviertels allen Menschen, von wo auch immer, offenstehen sollen, und nicht nur Mitgliedern der reformierten Kirche: «Die Bevölkerungszahl im Quartier nimmt in den kommenden Jahren sehr stark zu. Das Stefansviertel wird einen Beitrag zur Förderung der Lebensqualität im Quartier leisten und neue Personengruppen ansprechen, so ist beispielsweise ein Coworking-Space oder ein Indoorspielplatz geplant», ist Girsberger überzeugt.
Mehr Kirchenraum als nötig
Aber was meint Anneliese Hegnauer, die seit April 2020 tätige Präsidentin der Zürcher Kirchenpflege, zum Alleingang der Hirzenbacher? Die 67-Jährige, welche die Kampfwahlen ums Präsidium komfortabel gewonnen hat, sagt: «In der heutigen Zeit haben wir in der Stadt Zürich mehr Kirchenraum, als es für die aktuelle Zahl der reformierten Kirchenmitglieder braucht». Für sie kommt es dabei immer stark auf die Art der Umnutzung an, damit sich diese mit der Kirche vereinbaren lassen. Als Bewohnerin von Schwamendingen begrüsst Hegnauer grundsätzlich alle Vorhaben die zu einer Aufwertung des Quartiers führen: «Ein neuer Begegnungsort für alle Menschen des Quartiers ist immer eine wünschenswerte Sache, die mich freut.» Kirchenräume für zukünftige Bedürfnisse zu schaffen und bestehende Kircheninfrastruktur umzunutzen, findet Hegnauer wichtig.
Keine «Umnutzung»
Da es sich beim geplanten Stefansviertel um einen Ersatzneubau handelt, sprechen die Verantwortlichen aber nicht von einer Umnutzung, wie dies beispielsweise bei der Bullingerkirche, die als Stadtkloster dient, oder bei der Kirche Wipkingen, die der Jugendbewegung «Fridays for Future» zur Verfügung gestellt wird. Die Projektverantwortlichen reden lieber von einer erweiterten Nutzung. Als Vision soll das Stefansviertel vielfältig belebt werden und als gastliche Heimat dienen. Die Grundsätze des Stefansviertels fassen die Projektverantwortlichen so zusammen: «Gastfreundliche Heimat für ein inspiriertes Hirzenbach.»
Die Kirchgemeinde Hirzenbach wagt somit den Alleingang. Sie will sich – nach demokratischem Entscheid der 1650 Kirchgemeindemitglieder – nicht einbinden in die Gemeinschaft der seit 2019 bestehenden Stadtzürcher Kirchgemeinde. Antizyklisch wagt sie mit dem Stefansviertel den Ausbau ihrer Kirchgemeindebauten inklusive neuer Kirche. Dabei kommt ihr entgegen, dass die Kirche Hirzenbach nicht wie die meisten anderen Kirchen in Zürich denkmalgeschützt ist. Ob und wie sich diese Strategie auszahlt, wird die Zukunft weisen.
Weitere Informationen: www.stefansviertel.ch
Die Kirche Hirzenbach im Wandel der Jahrzehnte
Die in Schwamendingen beheimatete reformierte Kirche Zürich Hirzenbach inmitten einer vorstädtischen Wohngegend besteht samt Kirchenraum, Kirchgemeindehaus, Pfarrhaus und frei stehendem Kirchturm seit 1955. Die nach dem Zweiten Weltkrieg praktizierte Architektur von Max Aeschlimann und Armin Baumgartner zeichnete sich durch Bescheidenheit aus. Die Nebenbauten wurden in den 1980er-Jahren an die bestehende Kirchenmauer baulich angefügt und bilden den heutigen Saal. Nach Betreten des Eingangsbereichs führt ein langer Korridor am Foyer vorbei in Richtung Kirchenraum und dem später dazugekommenen Saal. Im Saal schliesst eine Faltwand den Bereich zum vieleckigen Kirchenraum ab. Der Innenraum der Kirche wurde im Jahre 2000 sanft renoviert. So erhielten die Bankreihen eine neue Anordnung, sodass der Mittelgang wegfiel. Die Isolierung wurde von innen ausgebaut und es entstand eine Bodenheizung. Weiter wurde die Elektronik mit einer Hörschlaufe für Menschen mit eingeschränktem Hörvermögen ausgebaut und zusätzliche Lampen sorgen seither für eine bessere Beleuchtung der 1984 ersetzten Orgel. Geografisch befindet sich die Kirchgemeinde Hirzenbach am nordöstlichen Stadtrand von Zürich an Wallisellen und Dübendorf grenzend. Die äussere Erscheinung der Stefanskirche gleicht mit dem schmalen hohen Kirchturm und den sichtbaren Kirchglocken der Markuskirche in Seebach oder der neuen Kirche in Witikon. Als sich das Quartier in den Jahren nach dem Bau stetig vergrösserte, wurde Schwamendingen 1966 in drei selbstständige Kirchgemeinden Schwamendingen Mitte, Saatlen und Hirzenbach aufgeteilt und bildet damit den zwölften Kirchenkreis von Zürich. Heute steht die Kirche Hirzenbach in der Planung eines Ersatzneubaus, deren Anfänge schon einige Jahre zurückreichen. (lvm.)