Pfarrer Andreas Cabalzar aus Erlenbach wurde durch einen Skiunfall in ein neues Leben geworfen: Seit Ende Dezember ist er von der Hüfte an abwärts gelähmt. Der «Küsnachter» hat ihn im Schweizer Paraplegiker Zentrum in Nottwil besucht.
Es war ein Bruchteil einer Sekunde, der alles verändert, der dem Leben von Andreas Cabalzar wortwörtlich eine neue Perspektive gegeben hat.
Am Morgen des 28. Dezember, etwa um 11 Uhr, verunglückte der reformierte Pfarrer aus Erlenbach beim Skifahren in Obersaxen. Es sei ein wunderbarer Tag gewesen, mit zwei seiner Töchter und deren Partnern habe er den Skitag genossen, erinnert er sich. Er stiess noch einen Juchzer aus. Und dann: Der Talski rutscht weg. Cabalzar, gemäss eigener Aussage ein guter Skifahrer, verliert vor einer Traverse die Balance, kann sich noch herumreissen, um einen Crash mit einer Steinmauer zu vermeiden. Doch er wird über einen Abhang hinauskatapultiert und prallt aus mehreren Metern mit voller Wucht auf den Boden.
Rückkehr in den Beruf geplant
Er habe den Knall gehört und gleich gespürt, was los war. 15 Minuten später lag Andreas Cabalzar im Helikopter nach Chur. Es folgte eine sechsstündige Operation im Kantonsspital, tags darauf die Verlegung ins Paraplegiker Zentrum in Nottwil, die schweizweit führende Reha-Klinik für Querschnittgelähmte.
Beim Unfall hat der 56-jährige Pfarrer alle Rippen und drei Rückenwirbel verletzt. Einer davon, der vierte Brustwirbel, ist zersplittert, und weil er auf den Spinalkanal drückte, schädigte er die Nerven.
Gut ein Monat ist seit dem Unfall vergangen. Cabalzar sieht gut aus, bewegt sich selbstständig im Rollstuhl und ist modisch gekleidet. Er sagt: «Der 28. Dezember ist für mich nicht ein Unfalltag, sondern mein zweiter Geburtstag.» Er habe ein zweites Leben geschenkt bekommen. Weil er einen Helm getragen hat, blieb der Kopf unversehrt.
Das Gefühl in den Beinen ist zwar schon innert weniger Tage zurückgekehrt, doch ob er je wieder gehen kann, ist fraglich. Das genaue Ausmass der Lähmung kann erst festgestellt werden, wenn der spinale Schock abgeklungen ist. Dies dauert etwa drei Monaten. Er akzeptiere das Leben im Rollstuhl, so der Theologe. «Alles andere bringt nichts, sonst würde ich in einer Warteschleife leben. » Er weiss auch bereits, dass er nach dem Reha-Aufenthalt in Nottwil im Sommer wieder in sein Pfarramt in Erlenbach zurückkehren wird. «Egal ob sitzend oder stehend, ich werde ein selbstständiges Leben führen können », so der Vater von drei erwachsenen Töchtern. Die Unterstützung der reformierten Kirchgemeinde Erlenbach, deren Wohlwollen und positive Zeichen würden ihn sehr berühren, sagt Cabalzar. Ausserdem werde er in Nottwil von Experten betreut, die sich um eine Wiedereingliederung mitsamt Umbau von Auto, Wohnung und Arbeitsort kümmern.
Samstagabende sind schwierig
In Nottwil fühlt sich Andreas Cabalzar wohl. Es sei ein guter Ort, an dem er eine breite Unterstützung erlebe.
Auf dem Tagesplan stehen neben Physio-, Ergo-, Kunst-, Musik- und Psychotherapie viel Krafttraining und Sport. Auch Homöopathie, Akupunktur, die Feldenkrais-Methode sowie später ein Arbeitseingliederungsprogramm und Sozialtherapie stehen auf dem Programm. Der Tag ist streng durchgetaktet, oft bleibt nur in der Nacht Zeit für sich selbst – und solche sei für ihn momentan sehr wichtig, betont Cabalzar. Schreiben helfe ihm, die Situation denkerisch zu erfassen, Malen sich auszudrücken. «Die Kreativität ist für mich eine körperliche und sinnliche Erfahrung. Ich kann dadurch meine Theologie und mein Menschenbild aus der veränderten Situation heraus neu entwickeln », sagt er.
Der in Erlenbach sehr beliebte und bekannte Seelsorger erhält unzählige Zuschriften von Freunden, Bekannten und Menschen aus der Gemeinde. «Eigentlich möchte ich auf alle reagieren», sagt er sichtlich gerührt, «doch ich komme schlichtweg nicht dazu.» Die Tage seien sehr besetzt, doch das ausgedrückte Mitgefühl gebe ihm viel Kraft und er sei äusserst dankbar für jede einzelne Mitteilung. Er erhalte «ein Meer von Unterstützung», besonders auch aus seinem engsten Umfeld. Der Pfarrer sagt gar: «Die Beziehungen erhalten nochmals eine andere Qualität. Die neue Situation lehrt mich, was wirklich wichtig ist.» Er überlegt kurz und fährt fort: «Ich ahne gar, dass diese Zäsur ein grosses Potenzial hat, für mich als Mensch und als Pfarrer.»
Dieser fundamentale Riss bedeute zwar, dass er ein völlig neues Körpergefühl erlernen und Vertrauen gewinnen müsse. Doch gleichzeitig vermittle die Neuausrichtung seinem Leben mehr Intensität, mache ihn demütig und dankbar. «Es hat einen riesigen Knall gebraucht, um mich nachhaltig zur Ruhe zu bringen», analysiert der umtriebige Pfarrer, der an der Goldküste unter anderem mit seinem Projekt «KulturKircheErlenbach» für Aufsehen gesorgt hat.
War der Unfall denn gar Schicksal? «Nein», die Antwort kommt sehr bestimmt. «Doch die Art, wie ich gelebt habe, war risikoreich, sehr beschleunigt und intensiv.» Er sei bei der verhängnisvollen Skiabfahrt nicht gerast, betont er sogleich. Nach kurzem Überlegen fügt er dennoch einen religiösen Aspekt hinzu: «Ich glaube, dass ich vom Tod bewahrt wurde, dass Gott noch etwas vor hat mit mir, respektive dass ich noch Aufgaben habe auf dieser Welt.»
So positiv und zuversichtlich das alles klingt – der erste Monat in der Reha ist nicht ohne psychische und physische Rückschläge verlaufen. Der Rücken und die Rippen sind noch immer schwer verletzt, die Schmerzen allgegenwärtig. Kommt dann noch eine Unverträglichkeit von Medikamenten hinzu, werden die Tage und Nächte zur Qual, auch das musste Cabalzar erleben. Und tiefer Schlaf ist wegen der Schmerzen sowieso selten. «Mir kommt aber entgegen, dass ich auch zuvor nur vier Stunden pro Nacht geschlafen habe», relativiert er.
Besonders schwierige Momente sind für Cabalzar, der stets so gerne tanzen ging, der Freitag- und Samstagabend. «Mein ganzes Umfeld ist dann unterwegs, und mein Körper ist ein Gefängnis, der Radius sehr klein. Daran habe ich jeweils zu nagen», sagt er. Aber es werde bestimmt anders, wenn die Mobilität grösser werde, fügt er sogleich an. Auch im Rollstuhl werde er wieder an Ü40-Parties gehen. Da ist er wieder, der Optimist, der nach vorne schaut und eine enorme mentale Kraft beweist.
Rollstuhl-Handball aufbauen
Hilft es, als Pfarrer schon viele Menschen in schwierigen Lebensphasen begleitet zu haben? «Es hilft wohl, dass ich etwas von Transformationsprozessen verstehe und weiss, was es braucht, um schwierige Situationen zu überstehen», meint er. Vor allem aber kenne er sich selber sehr gut. Er wisse, was er in Krisensituationen brauche: Kreativität, soziale Kontakte und Spiritualität. Neben seinem Umfeld sowie dem Schreiben und Malen gibt also auch die Bibel Kraft, ganz besonders die Verse 15 bis 17 im Kapitel 19 der Genesis. Darin wird die biblische Figur Lot von Engeln aus der Stadt Sodom geführt. Die Engel geben dem Sohn Harans den Rat, sich nicht umzudrehen, nicht stehen zu bleiben, stets voranzugehen und sich selbst zu retten. Cabalzar vergleicht die Engel mit seinen Rettungsleuten und Therapeuten. «Sie führten mich in Sicherheit und geben mir die Werkzeuge, mich selber zu retten.» Er habe nun die Wahl, entweder darüber nachzudenken, was er nicht mehr tun könne, oder aber sich darauf zu fokussieren, welche Ressourcen zur Verfügung stünden. «Ich habe einen Kopf und Hände, die funktionieren. Ich kann mich also selbst retten, indem ich mich neu erfinde, eine neue Identität für mich selber suche», führt der Pfarrer aus.
Ein neues Projekt ist bereits gefunden: Cabalzar will eine Schweizer Meisterschaft im Paraplegiker-Handball aufbauen. «Ich habe gelernt, dass es Basketball und Rugby gibt, nicht aber Handball für Rollstuhlfahrer in der Schweiz», erzählt der gebürtige Zürcher, der früher aktiv Handball gespielt hat. Das Ziel sei, dass es in allen sechs «Handballstädten » – also Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen, Luzern und St. Gallen – eine Handballmannschaft gibt und deren NLA-Klubs das Patronat für die Rollstuhlmannschaften übernehmen. Das heisst, die Klubs helfen, Hallen zu finden, in denen es erlaubt ist, mit Rollstühlen zu spielen. «Man muss mutig denken», sagt er zu seinem Vorhaben. Die Unterstützung vom Paraplegikerzentrum Nottwil hat er bereits zugesichert bekommen – dies nach nur wenigen Tagen, in denen er sich damit auseinandergesetzt hat. Cabalzar: «Nun freue ich mich auf den ersten Match.» (aj.)