«Ich habe noch eine Rechnung offen»

Erstellt von Lorenz Steinmann |
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Der Sprinter Philipp Handler startete an den Paralympics in Tokio in der Paradedisziplin über 100 Meter. Am Ende des Rennens stand er auf dem 7. Platz und erhielt ein olympisches Diplom. Der 29-Jährige Zürcher spricht im Interview über seine Vorbereitung im Letzigrund und was ihn als Sehbehinderten stört.

 

Philipp Handler, was haben Sie sich für die Olympiade in Tokio vorgenommen?

2016 in Rio habe ich das Finale über 100 Meter um 2 Hundertstel verpasst. Da habe ich definitiv noch eine Rechnung ­offen.

100 und 200 Meter sind Ihre Disziplinen. Welche Distanz laufen Sie lieber?

In Tokio werde ich aufgrund des Wettkampfprogramms – der Weltverband hat einige Disziplinen aus dem Programm genommen, so auch den 200-Meter-Lauf – nur über die kürzere Distanz an den Start gehen. Die 100 Meter laufe ich aber auch deutlich lieber, ich habe jeweils eher Mühe mit der Kurve und verliere dadurch etwas Zeit.

Ihre Bestzeit liegt seit Ihrem Rekordlauf in Langenthal am 12. August 2021 bei 10,96 Sekunden. Wie viel langsamer sind Sie, weil Sie stark sehbehindert sind?

Das ist sehr schwierig einzuschätzen. Es ist nicht so, dass es eine einfache Umrechnungsformel gibt. Es gibt allerdings gewisse Aspekte, welche zum Beispiel bei mir anders sind als bei einem nichtsehbehinderten Athleten. Aufgrund der starken Sehbehinderung ist mein Körper permanent am Reagieren und ständig in «Alarmbereitschaft». Das führt dazu, dass die Körperspannung viel höher ist und damit auch das Ermüdungs- und Verletzungsrisiko.

Sie sind seit Geburt stark sehbehindert. War das für Ihre sportliche Entwicklung ein Nachteil?

Es gibt sicher beide Seiten. Zum einen hatte ich mehr Zeit mich in meiner Situation «zurechtzufinden». Zum anderen ist es sicher einfacher, wenn man Bewegungsmuster als «Normalsehender» lernen kann. Gewisse Sachen sind ja wie Fahrradfahren – wenn man es einmal erlernt hat, verlernt man es nie.

Ihre Bestzeit ist nur 0,87 Sekunden höher als der Schweizer Rekord bei den «Nichtbehinderten» von Alex Wilson (10,09). Würde mit mehr Training mehr drin­liegen für Sie?

Im Sprint ist mehr nicht immer gleich besser. Mehr Trainings können dann auch mit einer höheren Verletzungsgefahr einhergehen. Man muss dem Körper Pausen und Zeit für die Regeneration geben. Abgesehen davon ist es in der Schweiz nicht ganz so einfach vom Sport zu leben, vor allem wenn man in einer medial nicht ganz so präsenten Sportart aktiv ist.

Die Bahn in Tokio gilt als sehr schnell. Peilen Sie einen nächsten persönlichen Rekord an?

Ich fühle mich sehr gut und in Form, deshalb wäre es definitiv auch ein Ziel, die persönliche Bestzeit anzugreifen. Was am Ende an solchen Grossanlässen zählt, ist der Rang, aber korreliert im Sprint ja bekanntlich mit der Zeit, weshalb das mir sicher helfen würde.

Starten Sie ebenfalls mit den «neuen» Sprintschuhen mit Carbonstacheln? Da sollen ja Fabelzeiten möglich sein.

Ich werde tatsächlich mit einem dieser «neuen» Sprintschuhe laufen. Die Stacheln sind dabei normal. Der Unterschied zu den herkömmlichen Spikes ist die Carbonplatte in der Sohle.

Sind Sie mit diesen Schuhen überhaupt noch die Ausnahme?

Bereits an den Olympischen Spielen in den Finals und teilweise Halbfinals (zumindest bei den Sprints) sind praktisch alle mit solchen Schuhen gelaufen. Es ist also schwierig zu sagen, was die Schuhe (und die Bahn) genau ausmachen, manchmal geht es auch darum, was dem einzelnen Athleten gut passt und womit er gut zurechtkommt.

Apropos Fabelzeit – und Alex Wilson: Wie beurteilen Sie seinen schlussendlich nicht anerkannten Europarekord?

Die Zeit wäre eine ziemliche Sensation gewesen – die von Ihnen oben angesprochene Fabelzeit. Seine Steigerung im Vergleich zu seinen vorherigen Rennen wäre aber enorm gewesen und natürlich sehr schwierig zu erklären – obwohl offenbar alles gestimmt haben soll an diesem Wettkampf. Natürlich verlässt man sich als Athlet aber auch darauf, was auf der Zeitanzeige steht.

Und seine Dopinggeschichte?

Ich kann nicht beurteilen, wie realistisch seine Aussagen sind, das müssen andere beurteilen. Ob absichtlich oder nicht, ­positive Dopingbefunde schaden der Leichtathletik und dem Leistungssport extrem. Als Athlet ist man ein Vorbild und sollte sich dessen auch immer bewusst sein.

Welches sind Ihre sportlichen Vorbilder?

Ich finde es schwierig, als Sprinter ein wirkliches Vorbild zu finden. Viele, welchen man damals als Kind und Jugendlicher bei Weltklasse Zürich die Daumen gedrückt hat, wurden irgendwann im Laufe ihrer Karriere positiv auf Dopingmittel getestet.

Und welches Ihre menschlichen?

Menschlich bewundere ich Leute, die sich aus einer misslichen und schwierigen Lage herauskämpfen und ihre Ziele verfolgen. Und dann in ihren Erfolgen auf dem Boden bleiben. Das zeigt wahren Charakter.

Sie wohnen mitten im Kreis 5. Was gefällt Ihnen am Stadtleben?

Vor allem die Flexibilität. Man ist überall extrem schnell – vor allem, wenn man wie ich auf den ÖV angewiesen oder zu Fuss unterwegs ist. Und dann natürlich die vielen tollen Orte, wo man sehr gut essen oder gemütlich etwas trinken kann.

Ziehen Sie auch beruflich Vorteile aus dem Stadtleben?

Mein Büro ist ebenfalls in der Stadt, daher profitiere ich von einem kurzen Arbeitsweg. Es erlaubt mir, meinen Sport und meine Arbeit unter einen Hut zu bringen und ideal zu kombinieren. Mit der Homeoffice-Situation der letzten Monate profitiere ich natürlich gleich doppelt von meinem Wohnort.

Wie sehen denn die Trainingsmöglich-keiten in der City aus?

Sehr gut: Ich bin in wenigen Minuten im Letzigrundstadion, wo ich entweder draussen auf der Rundbahn oder drinnen im Lauftunnel zusammen mit einigen Kollegen und meinem Coach vom Leichtathletikclub Zürich (LCZ) trainieren kann.

Die Paralympics werden von den Medien viel weniger beachtet als die Olympiade. Nervt Sie das nie?

In gewissen Bereich wäre es sicher einfacher – gerade im Bereich Sponsorensuche. Meines Erachtens hat sich das Medieninteresse für die Paralympics aber stark erhöht seit meinen ersten Spielen in London 2012. Man darf aber auch nicht vergessen, dass sich auch die Olympischen Spiele immer mehr mit anderen Unterhaltungsmöglichkeiten das Rampenlicht teilen müssen.

Die Selektionskriterien sind – verglichen mit der Olympiade – fast schon ungerecht. Es gilt das System der in der Anzahl limitierten Quotenplätze. Warum das?

Ich glaube, es scheint vor allem so ungerecht, weil die Zeiten in der Leichtathletik absolut messbar sind. Mit den verschiedenen Behinderungsklassen entsteht aber auch ein Problem: Wie vergleicht man das Potenzial eines Athleten mit Sehbehinderung mit dem eines Athleten mit einer Prothese, da sie ja gar nicht gegeneinander laufen werden an den Wettkämpfen.

Und?

Bei den Olympischen Spielen gibt es einige Sportarten, bei denen die Platzvergabe ebenfalls via Quotenplätzen vor sich geht – nur da können die Leute meist gegeneinander antreten und die Plätze so unter sich ausmachen, aber das muss dann noch lange nicht fairer sein deswegen. Es ist überall ein Problem, wo der Veranstalter eine Teilnahme-Obergrenze festgelegt hat und nicht eine spezifische Zeit/Rangierung in der Weltrangliste.

Wie sah Ihre Reise nach Japan aus?

Die Reise ging am 16. August los mit dem Flug nach Tokio. Von dort flogen wir weiter nach Oita, wo wir fast eine Woche im Trainingslager waren, um uns zu akklimatisieren. Am 24. August – dem Tag der Eröffnungsfeier – reisten wir dann nach Tokio ins olympische/paralympische Dorf.

Und wann gilt es ernst?

Für mich geht es dann am 29. August in der Morgensession los mit dem Vorlauf. In der Abendsession folgt dann (hoffentlich) der Final für mich. Coronabedingt, müssen wir schon kurz nach unserem letzten Einsatz das Dorf wieder verlassen. So werde ich am 1. September schon wieder zurück in der Schweiz sein.

Wo hatte Corona Einfluss auf Ihre Vor­bereitung?

Für mich war vor allem das Frühjahr 2020 sehr schwierig, als praktisch alle Sportanlagen zugegangen sind, man plötzlich keinen Kraftraum und auch nicht mehr die gewohnte Gruppe hatte und alles sehr improvisiert ablief. Normalerweise ist das die heisse Phase in der Saisonvorbereitung, wo auch Trainingslager stattfinden. Um trainieren zu können, musste man auf irgendeine noch offene Schul-/Sportanlage gehen bis man (manchmal) mitten im Training weggewiesen wurde oder man hoffte, dass niemand vorbeikommt.

Das war sicher nicht einfach.

Ich hatte extrem Mühe damit umzugehen, und das hat sich auch gezeigt, als man dann wieder Wettkämpfe durchführen konnte. Mit den Zeiten und Leistungen des letzten Jahres hätte ich keine Chance gehabt, mich für Tokio zu qualifizieren. Diesen Winter und Frühling gab es einiges mehr an Struktur und Sicherheit für Angehörige eines nationalen Kaders. Dies ist mir sehr entgegengekommen.

Das ist erfreulich. Wie sieht es in Tokio punkto Corona aus?

Tokio selbst wird sehr strikt in Bezug auf die Coronamassnahmen sein, davon hat man ja schon sehr viel von den Athleten der Olympischen Spiele gehört. Dennoch bin ich unglaublich dankbar, dass die Spiele stattfinden und natürlich stolz, die Schweiz – und insbesondere Zürich – in Tokio repräsentieren zu dürfen.

Sie haben Ihren USA-Pass, den Sie wegen Ihrer Geburt in den USA besassen, abgegeben. Nun können Sie nicht mehr amerikanischer Präsident werden. Bedauern Sie diesen Schritt nicht?

Ich denke, es würde sehr schwierig werden das Amt des US-Präsidenten mit meinem Trainingspensum und meiner Wettkampfplanung zu vereinbaren (lacht). Vielleicht kommt das Bedauern dann nach der Sportkarriere, und dann kann ich ja immer noch in der Schweizer Politik mein Glück versuchen und vielleicht von da die USA entscheidend beeinflussen.

Da freuen wir uns. Welchen Bezug haben Sie sonst noch zu den USA?

Ich habe immer noch Familienteile, die in den USA leben, und ich gehe sehr gerne in die Ferien oder auch ins Trainingslager dorthin. Auch wenn ich jetzt hier in der Schweiz lebe, war ich so oft schon dort, dass es trotzdem immer sehr vertraut ist, wenn ich wieder in die USA gehe.

Was könnte Zürich, was die Schweiz noch besser machen in Bezug auf Sehbehinderte?

Für mich persönlich sind es vielfach Beschilderungen oder Informationstafeln, die extrem klein gedruckt oder sehr weit weg sind. Das hat sicher ästhetische Gründe, macht es mir aber sehr schwer. Auch gewisse öffentliche Dienstleistungen (Post/Kreisbüro) haben oft eine rote Anzeige auf schwarzem Hintergrund. Als komplett farbenblinder Mensch ist es mir unmöglich, diese Tafeln zu lesen.

Wir machten dieses Interview schriftlich. Das scheint für Sie trotz Sehbehinderung kein Problem zu sein. Wie zufrieden sind Sie mit der digitalen Entwicklung?

Es macht sicher vieles einfacher. Ich habe alles auf meinem Bildschirm und kann hineinzoomen und vergrössern, wie es für mich passt. Allerdings gibt es natürlich auch Dinge, die mir nicht entgegenkommen. Jetzt, wo viele im Homeoffice sind, hat man immer mehr Videokonferenzen. Das alleine ist noch kein Problem, aber es ist etwas witzlos, wenn man die Gesprächspartner (am anderen Ende des Calls) sowieso nicht sieht, weil die Anzeige viel zu klein ist.

Wovon träumen Sie?

Natürlich von guten Zeiten in Tokio.

Dazu wünschen wir Ihnen viel Glück. Danke für das Interview.