Lockdown treibt Junge auf die Strasse

Erstellt von Lorenz von Meiss |
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Die ausbleibenden Freizeitangebote in Zürich treiben viele Junge dazu, ihre Wochenenden vermehrt in kleineren Gruppen an zentralen Orten draussen zu verbringen. Die wegen des Lockdowns bereits angespannte Grundstimmung kann dann schnell in eine Form der Gewaltbereitschaft kippen.

Tizian, Lino und Bruce sind drei junge Erwachsene, die mitten im Zürcher Niederdorf wohnen. Im Gespräch erzählen sie über ihre subjektive Empfindung der ­Gewaltbereitschaft von Jugendlichen zu Corona-Zeiten. Die drei sind alle Anfang zwanzig, von zuhause ausgezogen und wohnen bereits in eigenen Wohnungen mitten in der Altstadt. An den Wochen­enden erleben sie oft aus nächster Nähe, welche Szenen sich auf den Gassen des Niederdorfs abspielen. Die Stimmung ­jugendlicher Gruppierungen,die an den Wochenenden durchs Niederdorf ziehen, empfinden die drei jungen Erwachsenen als zunehmend aufgeladen und aggressiv. Tizian, Lino und Bruce sind sich darüber einig, dass sie in den letzten Monaten vermehrt Provokationen von jüngeren Menschen und jungen Erwachsenen in kleineren Gruppen ausgesetzt waren.
Auf die Frage, wie gross die drei Freunde den Frust unter Jugendlichen wegen der Covid-Massnahmen einschätzen, antworten sie, dass dies stark auf das Alter ankomme. Für einen jungen ­Erwachsenen, der gerade 18 Jahre alt geworden ist und seine Volljährigkeit nirgendwo ausleben kann, sei die Frustration natürlich grösser als für einen Mittzwanziger, der bereits mit beiden Beinen im Leben steht. Auch für die drei bieten sich in der jetzigen Situation keinerlei ­Angebote zur gemeinsamen Freizeit­gestaltung in der Stadt.
An den Wochenenden treffe man sich gegenseitig zuhause und esse manchmal gemeinsam zu Abend, schaue vielleicht noch einen Film. Eine aggressive Stimmung im Niederdorf sei ihnen neben anderen Vorfällen vor der Haustüre besonders an Neujahr aufgefallen. Eine grössere Gruppe junger Menschen habe auf der Niederdorfstrasse beim Hirschenplatz in einem Abfallcontainer Feuer gelegt und ein angerücktes Polizeifahrzeug mit einer Glasflasche beworfen. Nach einem gemeinsam verbrachten Abend bei Bruce versichern sich Tizian und Lino ­jeweils vor dem Nachhausegehen mit ­einem Blick vom Balkon, ob unten auf der Strasse niemand ist, der ihnen Ärger machen könnte. 

Zukunftssorgen
Seit knapp sechs Wochen befindet sich die Schweiz nun bereits zum zweiten Mal im Lockdown-Modus. Diesmal sind die Einschränkungen nicht ganz so drastisch wie im März letzten Jahres. Wäschereien, Nähereien, Schuhmacher sowie Autogaragen, um nur einige zu nennen, dürfen in der aktuellen Lockdown-Edition ihrem Geschäft weiter nachgehen. Unterhaltungsbetriebe und Partyveranstalter haben ihre Arbeit allerdings schon vor dem jetzigen Lockdown auf null runtergefahren. Unter dem Hashtag #guetnachtläbe schlossen Betreiber von Clubs, Bars und Restaurants ihre Tore. Dies zum Teil auch schon vor der Massnahmenverschärfung von letztem Dezember. Mit der weiteren Schliessung von Kinos, Museen und Zoos, aber auch dem Zugehen von Sportbetrieben wie Schwimmbädern und Kunst­eisbahnen erstarrten die Angebote zur Freizeitgestaltung nicht nur für junge Menschen.
Ausnahme ist hier die Berücksichtigung der unter 16-Jährigen, die Kultur- und Sporteinrichtungen weiter eingeschränkt nutzen können. Der unfreiwillige Verzicht auf Vergnügungsangebote löst bei jungen Menschen Langeweile und Frustration aus, wie die drei jungen Zürcher bestätigen. Gepaart mit Zweifeln an der stattfindenden gesellschaftlichen Veränderung wegen des Lockdowns ergibt dies eine brisante Mischung, die zu einer gereizten und aufgeladenen Grundstimmung führen kann. Giacomo Dallo, Geschäftsführer der offenen Jugend­arbeit Zürich (OJA), sieht noch andere Gründe, wieso die Stimmung unter ­Jugendlichen aktuell angespannt sein kann: «Viele Jugendliche machen sich Sorgen um ihren Schulabschluss oder, ob sie eine Lehrstelle finden. Zusätzlich belastend ist auch, wenn ihren Eltern ein Stellenverlust droht oder das schon passiert ist», sagt Giacomo Dallo. Jugendliche sind heute in einem Zwiespalt, zwischen dem Bedürfnis, die eigene Jugendzeit gebührend auszuleben, und der Einhaltung staatlich vorgegebener Massnahmen zur Eindämmung der herrschenden Pandemie.
Gerade in einer Zeit, die für die gesunde Entwicklung eines jungen Menschen extrem wichtig ist: «Jugendliche müssen sich von den Eltern ablösen und müssen ihren Platz in der Gesellschaft finden, in der sie sich sozial, kulturell und beruflich integrieren», sagt Giacomo Dallo weiter. Der Wunsch nach Freizeit­gestaltung und Pflege sozialer Kontakte bleibt unter jungen Menschen auch während Lockdown-Zeiten ungebrochen. Um diesem Grundbedürfnis nachzugehen, verbringen Jugendliche und junge Erwachsene ihre freie Zeit gezwungenermassen mehr draussen auf Plätzen oder zentral gelegenen Aussichtspunkten.
Die Mediensprecherin der Stadtpolizei Zürich Judith Hödl bestätigt ein entsprechendes Verhalten: «Die Stadtpolizei Zürich stellt fest, dass sich Jugendliche oder auch junge Erwachsene in den letzten Monaten vermehrt im öffentlichen Raum treffen und aufhalten. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass sie aufgrund der Corona-Massnahmen keine Möglichkeiten haben, andere Orte, Räume aufzusuchen, um etwas zu unternehmen bzw. sich zurückzuziehen», sagt sie. Dass eine solche Ansammlung Jugendlicher und junger Erwachsener unter gegebenen Umständen nicht immer konfliktfrei und friedlich zugeht, zeigen mehrere Vorfälle, die sich seit Anfang Jahr in der Stadt Zürich zugetragen haben. So beispielsweise der Polizeieinsatz im Raum Bahnhof Stadelhofen vom 8. Januar dieses Jahres, als eine grössere Gruppe Jugendlicher auf dem Sechseläutenplatz wahllos Menschen ­anpöbelte und eintreffende Polizeikräfte mit Wurfgegenständen und Feuerwerkskörpern beschoss.
Zwei Zürcher Gemeinderäte reichten Mitte Februar 2021 beim Stadtrat einen Vorstoss ein, wonach zu prüfen ist, ob im Gebiet Stadelhofen – Sechseläutenplatz – Seepromenade Überwachungskameras installiert und die Polizeipräsenz an den Wochenenden an den entsprechenden  Orten erhöht werden soll.

Auswirkungen nicht abschätzbar
Ob wirklich ein Zusammenhang zwischen den Corona-Beschränkungen und einer gesteigerten Aggressions- und Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen und gegen aussen festzustellen ist, lässt sich heute nicht klären. Unklar bleibt auch, welche Auswirkung die aktuelle Situation auf junge Menschen haben und wie sich die Zukunft Jugendlicher wegen der Corona-Massnahmen verändern wird, wie der Geschäftsführer der OJA Zürich ebenfalls sagt: «Es ist zurzeit nicht auszumachen, welche Auswirkungen die mittlerweile langandauernden Einschränkungen auf Jugendliche haben werden.»
Die aussergewöhnliche Zeit wird von jungen Menschen aber auch unterschiedlich genutzt: «Wir erleben auch, dass viele Jugendliche die wenigen Freizeitangebote, die zur Verfügung stehen, umso mehr schätzen und bei uns in den Treffs sehr aktiv mitmachen und sich mit Ideen einbringen», sagt Giacomo Dallo weiter. Die Mitarbeiter der offenen Jugendarbeit Zürich sind auch in der jetzigen Situation für die Jugendlichen da und suchen den Kontakt mit ihnen: «Mit den geltenden Einschränkungen sind Begegnungen im öffentlichen Raum ein wichtiger Ersatz für fehlende kulturelle und gesellschaftliche Freizeitangebote.»
Mit ihrer aufsuchenden Jugendarbeit sehen die Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter ihre Aufgabe ebenfalls darin, auf Veränderungen, neue Trends oder Konflikte in der Jugendszene zu reagieren. So soll sichergestellt werden, dass Jugendliche und junge Erwachsene  auch in dieser ausserordentlichen Zeit ­genügend Anlaufstellen zur Verfügung haben, um ihre Sorgen und Ängste mit ausgebildeten und erfahrenen Jugendarbeitern zu teilen. Oft geht es dabei nur schon darum, junge Menschen für die geltenden Einschränkungen zu sensibilisieren und Themen zu besprechen, die die Jugend­lichen besonders in der jetzigen Zeit ­beschäftigen.