Mehr Arbeitsrechtsklagen wegen Corona

Erstellt von Lorenz Steinmann |
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Sie ist eine von sechs Friedensrichterinnen und -richter in Zürich: Beatrice Hess. Sie ist für die Kreise 1 und 2 zuständig und erste Anlaufstelle für zivilrechtliche Forderungen und Klagen, ohne Mietrecht und Scheidungen. Die 60-Jährige über ihre speziellsten Fälle und den Einfluss von Corona.

Beatrice Hess, vor fünf Jahren gab es noch eine Kampfwahl, unter anderem gegen Sabine Ziegler von der SP. 2021 haben Sie keine Gegenkandidatin, übrigens wie in fast allen anderen Wahlkreisen. Spricht das für Sie als unparteiische ­Person, obwohl Sie für die FDP antreten?
In meinem Alltag als Friedensrichterin spielt die Parteizugehörigkeit keine Rolle. Aber in der Stadt Zürich erhöht die Mitgliedschaft in einer Partei die Chance, gewählt zu werden, markant. Bei meiner Wahl im März 2015 waren es übrigens drei Kandidaten. Ich weiss die Zahlen nicht mehr, aber der Parteilose hat deutlich weniger Stimmen erhalten als wir beiden Frauen, die jeweils von einer Partei unterstützt worden sind.
In Ihrer Funktion reicht das Lohnband bis jährlich 159 642 Franken. Ist es nicht erstaunlich, dass sich trotzdem niemand meldete?
Die Wahlchancen gegen eine amtierende Friedensrichterin sind nicht rosig. Und jeder Wahlkampf ist eine Investition: Er kostet Zeit, Energie und Geld. Es braucht gute Gründe, sich dafür zu entscheiden. Von den sechs städtischen Friedensrichterämtern gibt es nur bei einem Gegenkandidaten, bei den anderen fünf sind die Bisherigen unbestritten.
Trotz Einerkandidatur gibt es eine offizielle Wahl. Wäre eine stille Wahl nicht sinnvoller?
Ja, sicher. Aber mit der geltenden Gemeindeordnung ist es nicht anders möglich. Zum Glück wird sich das mit der ­geplanten neuen Gemeindeordnung ­ändern und 2021 ist voraussichtlich das letzte Mal, dass die Erneuerungswahl für das Friedensrichteramt mit einem vorgedruckten Wahlzettel und nicht als stille Wahl stattfinden wird.
Als Friedensrichterin der Kreise 1 und 2 geht es hin und wieder auch um Millionenbeträge. Können Sie zwei, drei Beispiele nennen, welche «dicken Fische» seit 2015 auf Ihrem Pult landeten?
Für mich als Friedensrichterin sind Klagen mit hohen Streitwerten vergleichsweise rasch zu erledigende, einfache Standardgeschäfte. Die werden nicht bei mir gelöst, sondern unter den Parteien und ihren Anwälten oder vor Gericht. Das einzige Interessante daran sind die Namen – und da unterstehe ich der Schweigepflicht.
Welche Fälle faszinieren denn besonders?
Manchmal versteckt sich hinter einem hohen Streitwert einfach ein bedauernswerter Mensch, der sich in die fixe Vorstellung verrannt hat, jemand habe ihn betrogen. In diesen Fällen hat die Höhe der Forderung vor allem mit dem Ausmass des eigenen Schmerzes zu tun und lässt sich kaum sachlich und für Dritte nachvollziehbar herleiten. Oder die Person geht von der irrigen Annahme aus, eher ernst genommen zu werden, wenn die Forderung erschreckend hoch ist. Diesen Menschen kann ich in der Regel nicht weiterhelfen. Sie lassen an sich abperlen, was ich sage. Ich kann mich einzig auf eine korrekte und zügige Durchführung des Verfahrens konzentrieren.
Und sonst ein spezielles Vorkommnis, das Ihnen geblieben ist?
Viel interessanter und herausfordernder als hohe Streitwerte sind für mich Klagen, bei denen es um viel weniger Geld geht. Etwa die Folgende:  Kurz vor Weihnachten waren zwei Geschäftsleute bei mir. Die Klägerin hat sich pensionieren lassen und ihr Geschäft aufgegeben. Der Beklagte hat als Nachmieter ihr Ladenlokal übernommen. Für die Ladeneinrichtung hatten die beiden einen Preis vereinbart, den der Beklagte nie bezahlt hat. Die Ladeneröffnung war im März geplant gewesen. Statt Eröffnung gab es dann Lockdown und einen verspäteten Start mit sehr tiefen Umsätzen. Beide Parteien haben mit viel Entrüstung über das unmögliche Verhalten der Gegenpartei die Verhandlung begonnen. In jedem zweiten Satz platzierten sie einen despektierlichen Seitenhieb an die Adresse des Gegenübers. Es war dann sehr eindrücklich zu erleben, wie sie sich schliesslich dazu durchringen konnten, einen Vergleich mit einer Ratenzahlung über zwei Jahre hinweg abzuschliessen. In einer Situation wie dieser geht es weniger um Gerechtigkeit, sondern um die Einsicht, dass beide in einem gewissen Sinn Verlierer sind und es an der Verhandlung nur darum geht, den Schaden zu verteilen und die Geschichte so abzuschliessen. Besonders wichtig ist es mir jeweils, dass beide erhobenen Hauptes hinausgehen können. Solche Prozesse brauchen oft ihre Zeit, weil es den Menschen verständlicherweise schwerfällt, die unbefriedigende Situation zu akzeptieren und über ihren Schatten zu springen.
Das tönt sehr ergreifend. Haben Sie noch ein Beispiel?
Eine junge Frau hatte keine Lehrstelle gefunden in ihrem Wunschberuf und über ein Jahr lang als Praktikantin in einem Kleinbetrieb gearbeitet. Im Frühling hatte sie einen Lehrvertrag mit ihrem Arbeitgeber unterzeichnet und erst bei Lehrbeginn im August festgestellt, dass dieser Vertrag vom Berufsbildungsamt nicht genehmigt worden ist und wieder nichts mit einer Lehre ist. Kurz darauf ist das Konkursverfahren eröffnet worden über den Kleinbetrieb. Die junge Frau verlangte jetzt ein Arbeitszeugnis für ihre Zeit als Praktikantin, das sie für die anstehende Lehrstellensuche dringend brauchte.
Und vielleicht noch ein Beispiel aus der Versicherungswelt?
Ich kann mich gut an ein Ehepaar erinnern, das gegen seine Versicherung geklagt hatte. Diese weigerte sich, den Schaden zu bezahlen. Die Wohnung war nach einem Kurzschluss ausgebrannt und ein hoher Sachschaden ist am Mobiliar entstanden. An der Verhandlung kam heraus, dass zum Brandzeitpunkt kein Versicherungsschutz bestanden hatte. Kurz vorher hatten die Versicherungsnehmer bei einem Diebstahl eine viel zu teure ­Kamera angegeben, die sie nie besessen hatten. So waren sie unverhältnismässig hart gestraft für ihren Fehler.
Das ist tatsächlich hart. Sie lernen bei ­Ihrem Job enorm viele Menschen kennen. Aber meist dauert die Begegnung lediglich eine halbe Stunde. Wie schaffen Sie es, sich jeweils in die besondere Situation hineinzudenken?
Eine halbe Stunde ist eigentlich ein wenig aussagekräftiger Durchschnittswert. Ich habe eher ganz kurze Verhandlungen, bei denen die beiden Parteien nach spätestens 15 Minuten abschliessend gesagt haben, dass sie nicht verhandlungsbereit seien, oder dann ein- bis zweistündige Verhandlungen, bei denen beide Parteien einen persönlich schwierigen Prozess durchmachen, bevor sie bereit sind, von ihrer Position abzuweichen. Sie schliessen dann eine Vereinbarung ab.
Aber die mentale Vorbereitung ist schon wichtig, oder?
Ich versuche, mir vor der Verhandlung nicht zu viel vorzustellen, sondern offen zu sein, Interesse und Wertschätzung zu zeigen und Fragen zu stellen. Es geht ja darum, dass die beiden Parteien Verantwortung fürs Suchen und Finden einer Lösung übernehmen. Und ich versuche, mich nicht davon unter Druck setzen
zu lassen, wenn die nächsten schon warten.  
Fühlen Sie sich nie einsam, weil Sie nicht im Team agieren können?
Ich habe mir ein gutes Netzwerk aufgebaut und pflege den Kontakt mit anderen Friedensrichterinnen und Friedensrichtern in der Stadt und im Kanton Zürich. Wir tauschen uns aus, können uns jederzeit Fragen stellen und auch einmal Schwäche zeigen. Das ist enorm wichtig für meine Arbeit. Ausserdem bin ich auch im Alltag nicht allein, sondern ich kann mich jederzeit auf die äusserst wertvolle Unterstützung meiner beiden kompetenten und zuverlässigen Sekretärinnen verlassen.
Trotz dem Einzelkämpfertum also alles bestens?
Grundsätzlich könnte ich mir eine andere Organisationsstruktur, bei der mehrere Friedensrichterinnen und Friedensrichter am selben Ort arbeiten würden und auch ein informeller Austausch einfacher möglich wäre, sehr gut vorstellen.
Hat die Corona-Krise Einfluss auf Ihre ­Tätigkeit? Sprich, haben Sie wegen der daraus folgenden wirtschaftlichen ­Änderungen, Problemen, ja dramatischen Situationen mehr zu tun?
Bis jetzt nicht. Im Frühling mussten alle Verhandlungen abgesagt und danach wieder neu angesetzt werden. Das war ein beachtlicher, vor allem administrativer Mehraufwand, den mein Team und ich bewältigen mussten. Die Fallzahlen insgesamt sind 2020 stabil geblieben bis Ende Oktober. Erst im November und Dezember ist die Zahl der neu eingereichten Klagen regelrecht eingebrochen. Während in den Vorjahren etwa 650 Klagen pro Jahr eingereicht worden sind, waren es 2020 somit rund 90 Klagen
weniger.
Interessant. Das wird aber kein Dauer­zustand sein, nehme ich an?
Ob das bloss die Ruhe vor dem grossen Sturm ist oder wie es weitergehen wird, ist schwer zu sagen. Klar zugenommen hat der Anteil an arbeitsrechtlichen Klagen, der in meinem Amt sowieso schon hoch ist. Er liegt inzwischen bei 50 Prozent der Klagen. In den letzten Wochen ging es oft um Löhne, die nicht aus­bezahlt worden sind, und verzweifelte Menschen, die plötzlich ohne Einkommen dastehen und im Moment nicht weiterwissen. Was ausgeblieben ist bis jetzt, sind die sonst üblichen Klagehäufungen, wenn sich ein Firmenkonkurs ankündigt und viele Rechnungen unbezahlt bleiben. Entweder kommen diese Klagen noch oder die Firmen reichen direkt Konkurs ein.
Spüren Sie wegen Corona eine Veränderung in der Gesellschaft?
Es ist noch zu früh zu sagen, was bleiben wird und was nicht. Im Moment spüre ich vor allem Verunsicherung und eine gewisse Schicksalsergebenheit bei den Menschen.

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Sechs Personen bemühen sich in Zürich darum, dass man nicht vor Gericht muss
Die Stadt Zürich hat sechs Friedensrichterämter, welche jeweils für zwei Stadtkreise zuständig sind. Eine Friedensrichterin oder ein Friedensrichter führt mit Unterstützung von zwei Kanzleimitarbeitenden ein Amt. Jährlich erledigt die Stadt etwa 3000 Schlichtungsverfahren. Am 7. März sind Bestätigungswahlen. Von den sechs städtischen Friedensrichterämtern gibt es nur bei ­einem Wahlkreis eine echte Wahl mit Gegenkandidaten, im Wahlkreis 7+8, wo die GLP die bisherige FDP herausfordert. Nicolas Schwarz tritt gegen Susanne Pflüger und gegen Benjamin Gertsch (SP) an. Bei den anderen fünf sind die Bisherigen unbestritten. An die Urne muss man trotzdem. (ls.)