«Pandemie zehrt an den Kräften der Eltern»

Erstellt von Dennis Baumann |
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Die Pandemie und ihre sozialen Auswirkungen zehren an den Kräften vieler Eltern. Wie die Pflicht zu Home-Office und mangelnder sozialer Austausch das Familienleben erschweren, erzählt Christine Fierz, Leiterin des Familienzentrums Küsnacht, im Interview.

 

Christine Fierz, wie geht es Eltern nach einem Jahr Corona?

Ganz unterschiedlich. Die Erschöpfung ist ein grosses Thema und die fehlende Möglichkeit zur Ruhe zu kommen. Es gibt viele Eltern, die ein Netzwerk haben und Angebote wie Kinderkrippen und Spielgruppen nutzen. Dann gibt es aber auch Eltern, die noch nicht so vernetzt sind und gerade während des ersten Lockdowns Schwierigkeiten hatten, auf Hilfsangebote zurückzugreifen. Für viele ­Eltern sind niederschwellige Angebote besonders wertvoll, da sie sich unter ihresgleichen treffen und Informationen und Unterstützung erhalten. Gerade die professionell geführten niederschwelligen Angebote fielen oftmals weg. Viele ­Familien mit Kleinkindern fühlen sich isoliert.

Was meinen Sie mit «vernetzt sein»?

Eltern, die über ein Netzwerk verfügen, kennen andere Eltern oder Nachbarn und können sich austauschen. Weiter haben sie meistens einen Platz in einer Kita, Spielgruppe oder Ähnlichem. Die Pandemie erschwert es frisch gebackenen Eltern, sich einzugliedern. Nicht vernetzte Eltern bleiben mit ihren Sorgen quasi allein. Der soziale Austausch ist das höchste Gut, das sie haben. Sich zu unterhalten, ob hier im Familienzentrum oder in einem Café, ist enorm wichtig. Man klärt Fragen zum eigenen Kind oder hat einen einfachen Schwatz. Unsicherheiten in der Erziehung von Kindern sind normal – da hilft es, sich auszutauschen oder sich Unterstützung zu holen.

Eltern kommen während der Pandemie kaum zur Ruhe. Welche Faktoren spielen dabei eine Rolle?

Vielen Eltern fehlt der sogenannte dritte Ort. Der Platz zwischen Arbeitsplatz und Zuhause, wo man sich trifft und sich ­austauschen kann, ohne mitten im Alltagstrubel zu stecken. Für einige ist es ein Restaurant, ein Café oder das Familienzentrum, die für einen grossen Teil des Pandemiejahres geschlossen blieben. Das führt zu einer Art Isolation, die beim Home-Office weitergeht. Damit fehlt auch der persönliche Kontakt mit Arbeitskollegen. Zudem ist Home-Office mit einem Kleinkind kaum machbar. Sie sind laut und brauchen sofortige Aufmerksamkeit. Oft blieb Eltern nur die Möglichkeit nach draussen zu gehen, was mit einem Baby oder Kleinkind im Winter nicht immer erholsam ist. Eltern fehlte es an der Möglichkeit, sich wieder nur als Mann oder Frau zu fühlen. Stattdessen sind sie stets in der Rolle des Elternteils, auch während der ­Arbeitszeit. Die Pandemie zehrt an den Kräften der Eltern.

Wie haben sich die Anliegen der Eltern seit Ausbruch der Pandemie verändert?

Sie sind akuter. Häusliche Gewalt, Alkoholismus, depressive Gedanken, Erschöpfung oder finanzielle Ängste treten seither häufiger auf. Ein weiteres Problem ist die mangelnde Möglichkeit, das Kind adäquat begleiten zu können. Da kam es teilweise zu Entwicklungsverzögerungen und manifestierten Schwierigkeiten bei verschiedenen Familien. Wo wir früher präventiv und niederschwellig beraten und intervenieren konnten, sind die Fragestellungen jetzt oft schwerwiegender und dringlicher. Da bin ich froh um meine Fachlichkeit und meine Erfahrung.

Wie erleben Kinder die Pandemie?

Vor allem Kleinkinder können sich der Coronasituation gut anpassen. Kleinkinder haben eine andere Zeitwahrnehmung. Sie leben im Moment und haben kein Gefühl für die Zeitdauer der Pandemie. Schwierig für sie ist jedoch der ­eingeschränkte Kontakt zur Familie. Besuche bei Grosseltern oder anderen Verwandten waren dann auf einmal nicht mehr möglich. Auch das Home-Office und die allgemeine Stimmung gehen an den Kindern nicht spurlos vorbei. Sie merken, wenn ihre Eltern angespannter sind als sonst.

Wie erklärt man einem Kleinkind die ­Coronasituation?

Indem man sagt, wie es ist. Man darf Kinder nicht unterschätzen. Sie sind in der Lage zu verstehen, worum es bei der Pandemie geht. Wie sie sich das Virus vorstellen, ist nebensächlich. Die meisten Kinder können mit einem veränderten Alltag umgehen, wenn sie gut getragen und begleitet werden.

Was hat sich am Alltag im Familien­zentrum während der letzten Monate verändert?

Von Januar bis April haben wir nur Beratungen auf Anmeldung anbieten können. Der Grossteil bestand aus Telefonberatungen, wobei zeitweise persönliche Sprechstunden möglich waren. Sonst haben wir auch auf Zoom den Kontakt aufgenommen. Zudem haben wir Spaziergänge angeboten, wenn gewünscht. Das waren die wenigen Möglichkeiten, wo ich ein Kind oder die Eltern direkt anschauen konnte. Daher sind wir über die Lockerungen froh, die den normalen Alltag ein kleines Stück näherbringen.

Wirklich zufriedenstellend war das wohl nicht?

Nein, überhaupt nicht. Beim Familienzentrum geht es nicht nur um die Beratung, sondern um den Begegnungsort. Denn es handelt sich hier um ein niederschwelliges, präventives und psychosoziales Angebot. Es ist für viele Eltern sehr wertvoll, dass sie zu uns kommen dürfen, ohne sich vorher anmelden zu müssen, und sich sofort beraten zu lassen.

Was raten Sie Eltern, die mit der Coronasituation überfordert sind?

«Schäme dich nicht!», kann ich dazu sagen. Egal ob hier im Familienzentrum, beim Nachbarn, bei Freunden, wo man sich helfen lässt, ist nicht entscheidend. Wichtig ist, dass man den Schritt wagt, sich einzugestehen, dass man sich Hilfe holen darf. Und das gilt nicht nur für Eltern und nicht nur für die Zeit der Pandemie.