Die Wollishoferin Blaženka Kostolná (70) gewann den Schweizer Autobiographie-Award. Sie verfügt über einen enormen Wortschatz, obwohl sie sich Deutsch autodidaktisch beigebracht hat.
Jeannette Gerber
Das Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft sowie die Autobiographie-Internet-Plattform meet-my-life.net vergaben an der Uni Zürich den Schweizer Autobiographie-Award zum dritten Mal.
Kostolnás Erzählungen in «Die gebrochene Lebenslinie» bebildern die Nachkriegsjahre in der damaligen kommunistischen Slowakei und enden mit der Flucht während des Prager Frühlings. So begab sich die hochschwangere Blaženka Kostolná mit Ehemann auf die abenteuerliche Reise. Bedingt durch die Niederkunft unterwegs landeten sie in der Schweiz. Ihr Ziel war eigentlich Norwegen, da dort schon damals ein Neugeborenes automatisch die norwegische Nationalität erhielt.
Eine Ehrlichkeit, die fast wehtut
Und so beginnt ihre Geschichte: «Ich war nicht willkommen, nicht in der Zeit, nicht von meiner Mutter.» Ihre 24-jährige, hochschwangere Mutter, die eigentlich alles andere als Bäuerin sein wollte, musste sich – da der Vater irgendwo im Ausland mit einem Lastwagen voller Bier unterwegs war – unter anderem um den Schweinestall kümmern. In einer stürmischen Nacht – die Schweine waren unruhig, eine Sau war bereit zum Wurf – rutschte die Schwangere auf dem schlammigen Boden aus und fiel direkt auf einen Apfelberg. Und da, zwischen herabfallenden Äpfeln, kam Blaženka zur Welt kam.
Diese Stunde der Geburt ist in der Geschichte so detailgetreu geschildert, dass man meinen könnte, sie habe das bewusst erlebt. «Ich fiel als Buchstabenkonstrukt aus Schuld und Sühne in einen Raum voller Äpfel», heisst es im Text. Bis heute sei ihr dieser Duft von reifen Sommeräpfeln präsent. Immer beim Anblick dieser gelbgrünen Äpfel höre sie die Mutter im Hintergrund Travince (Heulieder) singen. Die Preisträgerin Kostolná verfügt über einen enormen Wortschatz in Deutsch, was erstaunt, da ihre Muttersprache Slowakisch ist und sie sich das Deutsch autodidaktisch beigebracht hatte. Sie bedient sich fantastischer, eigener Wortschöpfungen und spielt gekonnt mit Metaphern. Sie beschreibt sich selbst, ihre Familie, Freunde und Bekannte mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit, die fast schon wehtut. Ihre Sprache ist nüchtern und klar, was stimmige Bilder nicht ausschliesst.
Die Familie war zeitlebens arm, und ein Satz, der oft in ihrer Familie ausgesprochen wurde, war: «Wir können es uns nicht leisten.» Das klang für sie bald wie das Amen in der Kirche, und sie hasste es.
Die packend geschriebenen Jugenderinnerungen enden mit dem Prager Frühling. Diese Nacht, die Nacht der Ohnmacht, blieb der damals 19-jährigen Slowakin so in Erinnerung: «Die Luft vibriert, lärmt, donnert, stöhnt, ja genau, sie stöhnt wie ein Greis, der nach Atem ringt.» Rund eine halbe Million Soldaten des Warschauer Pakts marschierten am 21. August 1968 in die Tschechoslowakei ein, um den Prager Frühling zu ersticken. Zwei Wochen später bestieg sie hochschwanger zusammen mit dem frisch angetrauten Ehemann den Zug in Bratislava ins Ungewisse, im Koffer «Die Gebrüder Karamasow» und den Ratgeber «Wie bringe ich mein Kind selbständig zur Welt?»
Schreiben ist jedoch nicht das einzige Talent der Künstlerin Blaženka Kostolná. Sie ist Lyrikerin, Autorin, Fotografin, Malerin, Illustratorin, Grafik-Designerin und diplomierte Kunsttherapeutin. In Bratislava studierte sie Werbefotografie und Grafik-Design. Ihr letzter Gedichtband mit dem Titel «HERZ STILL STAND» mit eigenen Illustrationen erschien 2018. Nach jahrelanger Tätigkeit bei verschiedenen Werbeagenturen als Fotografin und Grafik-Designerin arbeitete sie 30 Jahre lang bis zur Pensionierung beim «Tages-Anzeiger» im Bereich Werbung, Marketing und Kommunikation. Mit 58 liess sie sich als Kunsttherapeutin ausbilden.
Eine Fortsetzung ist geplant
Blaženka Kostolná war zweimal verheiratet, hat einen Sohn und wohnt seit 31 Jahren in Wollishofen an der Mutschellenstrasse in einem Jugendstilhaus. «In diesem Haus leben nur Frauen, der einzige Mann im Haus ist der Hausbesitzer», so Kostolná. Seit mehr als 10 Jahren hat sie ein Atelier an der Speerstrasse, wo die heute 70-Jährige jeden Tag malt. Zur Entspannung setze sie sich regelmässig mit einem Buch auf ein Bänkli im nahen Manegg-Friedhof. Momentan ist sie mit einem grossflächigen Gemälde mit dem Thema «AtemNot» beschäftigt, was automatisch mit dem Coronavirus in Verbindung gebracht werden könnte. Doch als sie mit dem Bild angefangen hatte, sei der noch kein Thema gewesen. Vielmehr beziehe sich der Titel auf den Zustand der Erde allgemein. Inspiriert hätten sie die verheerenden Waldbrände in Australien und die eigene Erfahrung mit einem Bronchialasthma.
Wenn Blaženka Kostolná im Erzählmodus ist, gerät sie fast in Atemnot und ist kaum zu stoppen. Sie ist eine quirlige, agile Persönlichkeit, voller Leben und Arbeitslust, überschäumend von Ideen und übersprudelnd vor Erinnerungen. Auf die Frage, ob es eine Fortsetzung der Autobiografie geben werde, denn diese ende ja mit einem sogenannten Cliffhanger, der förmlich nach mehr schreie, bestätigte sie, dass eine solche bereits in Arbeit sei. Es werde sich dabei um die ersten zehn Jahre ihrer Integration und Assimilation in der Schweiz handeln.
Zu lesen ist die Autobiografie gratis auf der Website von www.meet-my-life.net.
Was die Künstlerin alles geschaffen hat, sieht man auf www.blazenka-art.ch sowie auf www.atelier-mnemosyne.ch.