Am 6. Turmgespräch im St. Peter prallten zwei Welten aufeinander. Für Annette Böckler, Leiterin Fachbereich Judentum beim Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID), sind Rituale primär Sinnbild des Glaubens. Das kam bei den anderen Gesprächsteilnehmern nicht eben gut an.
Das 6. Turmgespräch im St. Peter hatte eine eigenartige Dynamik. Je mehr sich Annette Böckler ins Feuer redete, desto unwohler wurde es den übrigen acht Gesprächsteilnehmern. Denn für Annette Böckler, die seit dem 1. Mai 2017 beim Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID) den Fachbereich Judentum leitet, sind die Rituale des jüdischen Glaubens ganz zentral. «Das Ritual ist der Kern der Religion», ist Böckler überzeugt. Diese Ansicht allein war es jedoch nicht, die für Irritationen sorgte. Doch Böckler vertrat die Haltung, dass über den Glauben gar nicht diskutiert werden soll. «Der Glaube ist das Vertrauen, dass ein Wunder geschieht», so die 51-Jährige. Der Glaube sei quasi privat. Böckler erklärte, dass in den Synagogen nie über den Glauben gestritten werde, sehr wohl aber über die Rituale. Sie ist überzeugt, dass das Judentum darum lebendig bleibt. Denn man müsse sich mit den Ritualen immer anpassen. «Ich fahre lieber in die Synagoge, dafür bin ich in der Gemeinschaft», so Böckler. Für einigermassen orthodoxe Juden ist das eigentlich ein No-Go, am Sabbat sind Transportmittel verpönt.
«Ganz bitter»
Für Stefan Grotefeld, Leiter der Abteilung Lebenswelten der Kantonalen Reformierten Kirche, ist die Fokussierung auf die Rituale «ganz bitter». «Keine Diskussion über den Glauben, keine Fragestellung, wie Gott ist, welche Vorstellung wir heute von ihm haben», nervte sich Grotefeld. Der Mitarbeiter der Winterthurer Fabrikkirche und Theologiestudent Christian Bergmeier sieht in Ritualen durchaus Positives. «Mir bedeuten Gebete etwas, aber erst nach der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Glauben», sagte er. Mit einem Lächeln schob er nach: «Vielleicht ist das typisch protestantisch.»
St.-Peter-Pfarrer Ueli Greminger, der sich in der Diskussion – für ihn untypisch – stark zurückhielt, konstatierte, dass «bei uns das Selbstverständliche der Rituale vorbei ist, wir müssen sie wie neu erfinden», so der als liberal geltende Theologe.
David Guggenbühl, Organisator der Gesprächsreihe und Vizepräsident der Kirchenpflege St. Peter, stellte die Frage, ob die vielen jüdischen Rituale nicht auch Folge der jahrhundertelangen Verfolgung des Judentums seien. Annette Böckler verneinte: «Unsere Rituale sind ja uralt», aber: «Die stete Verfolgung stärkt sicher das Zusammengehörigkeitsgefühl.» Sie erzählte von einer überlieferten Gegebenheit aus einem Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg. Zu Chanukka, dem jedes Jahr gefeierten jüdischen Lichterfest, bastelten dem Tod geweihte Insassen einen Chanukka-Leuchter mit Margarine als Kerzenwachs. Überleben könne man drei Tage ohne Essen, aber nur drei Sekunden ohne Glauben. Trotzdem: Rituale würden im seit Jahrhunderten gegenüber Juden toleranten London nicht anders vollzogen wie in Deutschland. Das Judentum habe eine lange, lange Tradition, die auf der Thora-Lehre beruhe. Die Torah, als Anmerkung des Chronisten, ist der erste Teil der hebräischen Bibel. In der christlichen Bibelübersetzung sind dies die fünf Bücher Mose, ein Teil des Alten Testaments.
Judentum als Joch?
Ueli Greminger zitierte einen jüdischen Freund, der das Judentum als Joch bezeichnet: Es gehe einzig darum, erhaben durchs Leben zu gehen. Darauf Böckler: «Gott fragte nicht, als er uns als Volk auserwählte. Also ist es Verantwortung und Pflicht, aber sicher kein Joch.» David Guggenbühl wertete das positiv. Doch Böckler relativierte: «Das kleinste, unbedeutendste Volk wurde auserwählt.» Eine Aussage, die das Klima im sommerlich heissen Turm kurzfristig gefrieren liess. Gabi Kisker, Kirchenpflegerin St. Peter und Mitorganisatorin der Turmgespräche, fragte in den Raum, wer denn auserwählt sei? Nur jene, welche die Rituale pflegten? Christian Bergmeier spürte ein Unbehagen, eine Art Ausgrenzung: «Die Juden sind das auserwählte Volk. Wir also nicht . . .»
Rituale schaffen Gemeinschaft
Stefan Grotefeld erinnerte daran, dass es auch bei der Champions League Rituale gebe. «Die Frage ist doch, wie inhaltsleer solche Rituale sind», so Grotefeld. Für ihn ist die dahinterliegende Ethik das Wichtigste. David Guggenbühl zeigte sich überrascht, dass der Glaube bei Frau Böckler keine Rolle spiele. Doch was für – sagen wir mal – aufgeklärte, moderne Christen eigenartig erscheinen kann, kann auch Wert haben. Annette Böckler betonte, wie Rituale Gemeinschaft schaffen. «Ich fühlte mich in Zürich durch die bekannten und gemeinsamen Rituale sofort heimisch, nachdem ich vorher zehn Jahre in London gelebt hatte», so die promovierte Theologin, die 2001 zum Judentum übertrat.
Zwei jüdische Strömungen
Immerhin: Böckler zeigte im einstündigen Gespräch die beiden Strömungen im Judentum auf: Der Londoner Rabbi John Desmond Rayner (1924–2005) sei ein Verfechter des liberalen Judentums. Dieser veröffentlichte Schriften darüber, dass nicht alles strikte geregelt sein müsse im Judentum: Etwa die Beschneidung, die Verheiratung, die Haartracht und die Kleidung. Er vertrat die Haltung, dass die jüdische Religion nicht primär rituelle Handlungen beinhalte, sondern ethisches Handeln. «Jüdisch sei nicht nur eine Frage der Geburt, sondern eine Frage des Glaubens», so die Worte von Böckler zu Rabbi Rayner.
Für den Rabbiner Jaro Leibowitz hingegen bedeutet Religion die Rituale. «Rituale erhalten die Religion lebendig», zitierte Böckler Leibowitz. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie die Haltung von Leibowitz jener von Rayner vorzieht.
Nicht zur Sprache kam am 6. Turmgespräch die eigentlich zentrale Frage aller Turmgespräche, nämlich jene nach «Religion – Himmel oder Hölle». Dies darum, weil der Himmel im jüdischen Glauben unerreichbar ist. Der Versuch, diesen zu erreichen, wird mit göttlicher Strafe quittiert. (ls.)