«Schauspielerei geht digital und analog»

Erstellt von Urs Heinz Aerni |
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Martin Ostermeier in Albisrieden im Gespräch über eine Starrolle ohne Leichenaufschneiden, die Schauspielerei im Digitalzeitalter und die Arbeit am Text. 

Herr Ostermeier: In der Annahme, dass Sie es nicht mehr hören können, muss doch für unsere Leserinnen und Leser festgehalten werden, dass Sie als ­Gerichtsmediziner in der TV-Serie «Der Bestatter» mit Namen Alois Semmelweis zum Publikumsliebling wurden. Mussten Sie zum Casting Leichen aufschneiden, oder wie kamen Sie zu dieser Rolle?

Ich musste für das Casting diverse ­Leichen verschiedenen Geschlechts und Alters aufschneiden. Da nicht genügend vorhanden waren, haben wir uns auf der Strasse «bedient», das heisst, wir haben Menschen vom Leben zum Tod gebracht, und ich habe sie anschliessend … Spass beiseite: Es war Zufall, Zufall, Zufall, wie ich zu dieser Rolle gekommen bin.

Dann sind wir mal gespannt ...

Ich versuche die Geschichte so kurz wie möglich zu erzählen. Ich treffe meinen Freund István aus Wien zufällig in Wiedikon auf der Strasse. Wir plaudern mit­einander und ich falle ins Wienerische, weil ich sprachlich ein ziemliches Chamäleon bin. István erzählt unserem gemeinsamen Freund, Karim Patwa, dass ich Wienerisch spreche. Karim Patwa teilt das Atelier mit Dave Tucker, der gerade die erste Staffel von «Der Bestatter» schreibt und auf der Suche nach einem Schau­spieler ist, der Wienerisch spricht. So erfährt Dave Tucker von mir, ruft mich an, und ich habe die Rolle – ohne Casting und Leichenaufschneiden.

Kam es vor, dass Sie nach den Dreharbeiten vergassen, vom Wienerischen zurück in Ihr angeborenes Bayrisch zu ­wechseln?

Ich bin bilingual aufgewachsen, Hochdeutsch und Bayerisch. Meistens spreche ich Hochdeutsch, weil wir zu Hause so gesprochen haben. Das Wienerische schätze ich sehr und spreche es gerne, wenn ich Lust darauf habe; auf dem Set allerdings nur in der Rolle. Ich bin nicht der Daniel- Day-Lewis-Typ, der aus seiner Rolle nicht mehr aussteigt.

Sie spielten früher bei «Derrick» und traten auf verschiedenen Bühnen auf. Auch haben Sie sich eine Zeit lang dem Studium der Philosophie gewidmet. Brachte Ihnen das Wissen von und der Umgang mit Texten Vorteile für das Studium?

Hauptsächlich profitiere ich in umgekehrter Richtung. Ich greife jetzt mal ­einen Aspekt heraus. In der Philosophie bemerkt man irgendwann: Alles ist kontrovers. Das hilft auch beim Spiel, beim Theater, und zwar in der Hinsicht, dass man vielleicht nicht nach der richtigen, sondern nach einer unter vielen guten ­Lösungen sucht. Ich hatte oft Angst, dass jemand eine bestimmte Entscheidung als eindeutig falsch identifizieren könnte. Von dieser Angst kann ich mich durch die Philosophie immer mehr befreien. Ich will hier aber nicht dem Relativismus das Wort reden.

Doch ganz ohne Entscheidungen und Meinungen geht es aber doch nicht, oder?

Es gibt durchaus No-Gos, und nicht jede Option ist eine gute. Und der Transfer vom Schauspiel zur Philosophie? Wenn man Theater nach literarischen Vorlagen macht, also vorhandene Stücke spielt, muss man Texte auslegen, versuchen zu verstehen, auf verschiedene Bedeutungen abklopfen und so weiter. Das macht man in der Philosophie natürlich auch. Im Schauspiel ist die Sprache ein starkes unter mehreren anderen Mitteln, in der Philosophie ist Sprache sicher das wichtigste, vielleicht sogar das einzige Arbeitsinstrument.

Mit der starken Charakterfigur im «Bestatter» gewannen Sie ein grosses Fernseh­publikum. Segen und Fluch?

Ich werde oft gefragt, ob ich jetzt viel drehe, weil ich mit «Der Bestatter» so viel Erfolg hatte. Das ist nicht so. Wahrscheinlich denken die Leute: «Nein, wir brauchen keinen verschrobenen Wiener in unserem Cast.» Ich bin nicht mal Wiener und kann natürlich auch viele andere Sachen spielen. Aber weil ich das vor der Kamera kaum zeigen kann, wird es nicht wahrgenommen.

Wird die Kunst des Schauspiels unter dem Tempo der Digitalisierung leiden, oder sehen Sie hier auch Chancen?

Schauspielerei geht digital und analog. Die Magie, die sich einstellen kann, wenn mehrere Leute gleichzeitig in einem Raum körperlich anwesend sind, wird immer bleiben. Das kann digital nicht hergestellt werden, ebenso wenig die ­Unmittelbarkeit des Theaters. Gleich­zeitig verändert das Digitale natürlich vieles. Wir haben eine so monströse Menge an Möglichkeiten, dass wir sehr leicht den Fokus verlieren können. Die Kompetenz, Gutes und nicht zu viel des Guten aus dem Überangebot auszu­wählen, wird mehr und mehr zu einer Kernkompetenz der digitalen Welt.

Und was heisst das jetzt fürs Schauspiel?

Wenn ich mich im Theater langweile, braucht es grosse Entschlusskraft, den Saal zu verlassen; das ist dann auch ein ­öffentlicher Akt, verbunden mit einem Werturteil über die Aufführung, Publikum und Schauspielende bekommen das mit. Online muss ich nur einmal klicken, um weg zu sein, und meistens merkt das niemand. Wie man darauf am besten reagieren sollte, weiss ich nicht. «Den Markt» mit Online-Angeboten zu fluten, scheint mir keine Lösung zu sein. Aber ich bin kein Kulturpessimist. Natürlich ist es toll, dass wir so vieles zur Verfügung ­haben. Mir selber bereitet der Umgang mit dem Überangebot jedoch Schwierigkeiten.

Verändert sich das Spiel, das Handwerk?

Ich hatte an einem Online-Schauspiel­seminar teilgenommen. Da habe ich dann die Kamera statt die Kollegin auf den Hals geküsst, wie es in der Regie­anweisung stand. Also ja, das Spiel ver­ändert sich.

Man erlebt Sie auch als begnadeten Leser, so in einer literarischen Inszenierung von Ruth Werfel im Atelier für Kunst und Philosophie beim «Hubertus». Ab wann merken Sie, ob ein Text funktioniert oder eben nicht?

Ich merke das, wenn ich nicht mehr den Text gestalte, sondern der Text mich führt. Man könnte sehr lange über dieses Thema sprechen. Es ist wie mit dem Reiter und dem Pferd. Der Reiter gibt an, wo es hingeht, die Gangarten, wie schnell, wie langsam; aber das Pferd läuft, hat die Kraft, die Energie. Pferde können temperamentvoll oder gutmütig, nervös oder ausgeglichen sein. Deshalb muss ich mein Pferd so gut wie nur irgendwie möglich kennen!

Also viel Vorarbeit auch hier ...

Gute Vorbereitung ist alles und bedeutet für mich als Leser in erster Linie genaueste Kenntnis des Textes. So gelingt der Ritt durch die verschiedensten Situationen, je nachdem, wie das Publikum ­reagiert.

Zürich ist seit Jahren Ihre Heimat. Wir sitzen hier in Albisrieden, ganz unter uns. Was macht Zürich als Kulturstadt aus?

Die Bäderkultur: Freibad Letzigraben, ­Allenmoos, Männerbadi, Oberer und ­Unterer Letten. 

 

Schauspiel und Philosophie studiert

Martin Ostermeier wuchs in Landshut, Bayern, auf. Von 1992 bis 1995 studierte er Schauspiel am Mozarteum in Salzburg. Er spielte an verschiedenen Häusern in Deutschland und der Schweiz Theater, so z. B. in Frankfurt, Luzern, Wuppertal, Basel und München. Seit Mitte der 90er-Jahre tritt er auch in Fernsehen und Kino auf, u. a. in «Der Alte» und «Derrick» oder «Moskau einfach». Einem breiten Publikum wurde Ostermeier durch die Schweizer Fernsehserie «Der Bestatter» bekannt, wo er den Gerichtsmediziner Alois Semmelweis verkörperte. Neben seiner Schauspieltätigkeit hat Ostermeier auch Philosophie an der Universität Zürich und an der Humboldt-­Universität in Berlin studiert. (uae.)