Mit «20/21 Synchron» ist dem Zürcher Literaturvermittler Charles Linsmayer ein Hit gelungen: Sein im Januar erschienenes Lesebuch zur Schweizer Literatur von 1920 bis 2020 stand fast drei Monate lang ganz oben auf der Bestsellerliste des Schweizer Buchhandels.
Man kann dieses Buch in die Hand nehmen, wie man will, es kommt immer eine Entdeckungsreise dabei heraus. Los gehts schon beim Blick auf das Cover. Die Autorinnen und Autoren, die Zeichner Claudio Fedrigo hier versammelt hat, blicken einem alle direkt und irgendwie auffordernd in die Augen: Wer bin ich? Sogleich beginnt das Rätselraten. Denn nicht alle Karikierten lassen sich so leicht identifizieren wie die älteren Herren mit Brille, Haarflügelchen über den Ohren, Spazierstock oder Weinglas in der Hand. Die Neugier ist geweckt, schon blättert man im Buch, landet bei den Biografien mit den Fotos, wandert zu den zugehörigen Texten, switcht immer animierter hin und her. Ja, das Cover komme beim Lesepublikum sehr gut an, berichtet Herausgeber Charles Linsmayer. So gut, dass neben dem Buch auch das Weltformat-Plakat, das vom Cover erhältlich ist, zum Renner wurde.
Gleichberechtigtes Nebeneinander
Die Autorenrunden vorne und hinten auf dem Umschlag geben einen Vorgeschmack auf das unterhaltsam vielstimmige Potpourri, das einen zwischen den Buchdeckeln erwartet: Erschienen als Band 40 der von Linsmayer editierten Reihe «Reprinted by Huber», versammelt «20/21 Synchron» Texte und Kurzbiografien von 135 Autorinnen und Autoren aus allen vier Landesteilen – in deutscher Sprache oder auf Deutsch übersetzt.
Die Texte und Gedichte sind nicht chronologisch geordnet, sondern thematisch. So erklingen hier «synchron» bekannte und weniger bekannte, lebende und nicht mehr lebende Stimmen zu ewig gültigen Themen wie Kindheit, Liebe, soziale Prägung, Nation, Emigration, Religion, Leben und Tod – oder auch zum Schreiben an sich. Von Hesse, Frisch, Dürrenmatt bis Zoë Jenny, Blaise Cendrars bis Melinda Nadj Abonji, Alice Rivaz bis Peter Stamm, Cilette Ofaire bis Tim Krohn, Giovanni Orelli bis Anna Stern: Alle stehen sie in diesem Sammelband gleichberechtigt nebeneinander, unabhängig von Generation, Sprache und dem Leuchtgrad ihres Sterns am Schweizer Literaturhimmel. Mit einer Ausnahme (Martin Suter) hätten alle angefragten Autorinnen und Autoren sowie die Verlage an seinem Projekt mitgemacht, sagt Linsmayer.
Viele Erstveröffentlichungen
Die Anthologie lädt nicht nur zu einer einmaligen, abwechslungsreichen Lesereise durch die ganze Schweiz. Einen zusätzlichen Reiz verleihen ihr die vielen Erstveröffentlichungen. Ob von Arno Camenisch, Ruth Schweikert, Lukas Bärfuss, Simone Lappert, Noëlle Revaz, Jonas Lüscher: Insgesamt enthält das Lesebuch rund 50 solche als «Erstdruck» oder «Originaltext» gekennzeichnete, vorwiegend aktuelle Beiträge. Man kann sie als besonderes Geschenk an den Herausgeber und die Leserschaft verstehen. Ein weiteres Geschenk stammt aus der Feder von Linsmayer selbst: Es sind die aufschlussreichen Kurzbiografien, mit denen der Literaturwissenschaftler Leben und Werk der ausgewählten Autorinnen und Autoren in einen Zusammenhang bringt.
Das Lesebuch «20/21 Synchron», so viel ist klar, steht ganz in der Linsmayerschen Tradition der «angewandten Literaturwissenschaft». Anders gesagt: Es zeugt einmal mehr von Linsmayers unermüdlichem Bemühen, sein profundes literaturgeschichtliches Wissen einem breiten Publikum lebendig und nachvollziehbar zu vermitteln.
Ein Leben für die Literatur
Der 77-jährige Zürcher Germanist, Journalist und Herausgeber Charles Linsmayer engagiert sich seit vielen Jahren leidenschaftlich für die Schweizer Literatur. Zu seinem herausgeberischen Lebenswerk gehören bisher weit über 100 Neuausgaben von Werken (meist) nicht mehr lebender Autorinnen und Autoren aus der ganzen Schweiz. Dazu kommen unzählige Buchbesprechungen, vielbeachtete Literaturausstellungen, Lesungen und Autorengespräche – wie die «Hottinger Literaturgespräche», die er 2011 in seinem Wohnquartier Hottingen lancierte und inzwischen am Theater Neumarkt weiterführt. Linsmayer wurde für seine vielseitige Tätigkeit als Literaturvermittler mehrfach ausgezeichnet.