Turicum hatte eine Abfalldeponie

Erstellt von Pascal Turin |
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Ein neues Buch der Kantonsarchäologie Zürich wirft einen spannenden Blick auf Zürich in römischer Zeit. Allerdings sind noch nicht alle Geheimnisse gelüftet. Denn nachdem die Kleinstadt über Jahrzehnte prosperierte, folgten unruhige Zeiten und der Abstieg.

Nur ein Jahr, fünf Monate und fünf Tage hatte er gelebt. Um 200 nach Christus starb Lucius Aelius Urbicus. Hunderte Jahre später, 1747, entdeckte man auf dem Lindenhof mitten in Zürich den Grabstein des Jungen. Der Fund stellte sich als sehr wichtig für die Erforschung der Stadtgeschichte heraus. Der Grabstein gab einen Hinweis auf den Vater des Verstorbenen. Dieser hatte als Vorsteher der «Statio Turicensis» geamtet, einer römischen Zollstation.

«Die Frage nach dem antiken Namen Zürichs war damit gelöst, und anstelle von Tigurinum trat wieder das bereits zuvor vermutete Turicum», heisst es dazu in der neusten Publikation der Kantonsarchäologie Zürich. Autorin des Buchs ist Annina Wyss Schildknecht. Sie vereint in ihrer Dissertation verschiedene Erkenntnisse zu einem Gesamtbild, wertet sie aus und zeichnet die Entwicklung der römischen Siedlung Turicum vom 1. Jahrhundert vor Christus bis ins 4./5. Jahrhundert nach Christus nach.

Kelten waren der Ursprung

Die Erforschung des alten Zürichs begann vor über 200 Jahren. Systematische Grabungen gab es allerdings erst ab den 1930er-Jahren. Archäologin Wyss Schildknecht konnte sich auf über 200 Fundstellen mit römischen Gebäuderesten und Fundobjekten stützen. «Die Stadtgeschichte kann dank ihrer Arbeit um wichtige Kapitel ergänzt werden», loben Stadt und Kanton Zürich in einer Mitteilung.

Die Ursprünge Zürichs gehen auf die keltische Zeit zurück. An den Abhängen des Lindenhofhügels befand sich ab circa 80 vor Christus ein keltisches Oppidum, also eine befestigte Siedlung. Einen Höhepunkt erlebte Ur-Zürich dann im 2. Jahrhundert nach Christus. «Die römische Kleinstadt Turicum, die sich im Bereich der heutigen Altstadt vom Lindenhof zu beiden Seiten der Limmat erstreckte, erreichte zu dieser Zeit ihre grösste Ausdehnung», so Autorin Wyss Schildknecht, die einen interessanten Blick in die Geschichte der Stadt in der römischen Zeit ermöglicht.

Die Bedeutung des Orts beruhte in erster Linie auf seiner Lage am Wasser. Der Kleinstadt soll eine Schlüsselfunktion im Handel zwischen Süden und Norden zugekommen sein. «In Turicum musste die Handelsware wegen der unterschiedlichen Steuer- und Antriebstechniken sowie des geringeren Tiefgangs von See- auf Flussschiffe umgeladen werden», heisst es dazu im reich bebilderten Buch.

Die Siedlung hatte ein innerstädtisches Strassennetz und war von Norden und Süden zugänglich. «Eine Brücke über die Limmat gab es mit Sicherheit, konnte jedoch bis heute im Befund nicht nachgewiesen werden», so die Autorin. Auch sonst gab es in Turicum einige Annehmlichkeiten für seine Bewohnerinnen und Bewohner. Am linken Limmatufer standen etwa eine grosszügige Thermenanlage und Bauten für kultisch-religiöse Zwecke. An der Thermengasse, zwischen Schlüsselgasse und Weinplatz, können die Überreste der Thermenanlage jederzeit kostenlos besichtigt werden.

Turicum musste als Zollstation über eine oder mehrerer Schiffsanlegestellen verfügt haben. Doch hier fehlt, wie bei der Brücke, der eindeutige archäologische Nachweis. Eine römische Quaimauer konnte nicht gefunden werden. Nachgewiesen ist hingegen eine Abfalldeponie. «Die Tatsache, dass der Unrat in einer Deponie entsorgt wurde, weist auf einen übergreifend geregelten Umgang mit Siedlungsabfällen hin», so das Fazit. Auf dem Lindenhof soll es zudem einen Laufbrunnen gegeben haben. Offen ist, wie das Wasser zum Brunnen gelangte. Es musste einen beträchtlichen Höhenunterschied überwinden. Bis heute fänden sich weder Hinweise auf Wasserspeicher oder Wasserfassungen auf dem Lindenhof noch auf Zuleitungen aus der Umgebung wie beispielsweise mit einem Aquädukt. Auf alle Fälle deutet fliessendes ­Wasser auf eine begüterte Bewohnerschaft im Siedlungszentrum auf dem ­Lindenhof hin. Obwohl das Buch Fach­literatur ist, sind die detaillierten Auswertungen auch für Laien interessant.

Dann ging es abwärts

Doch die guten Zeiten hielten nicht für immer an. Im 3. Jahrhundert ging es mit Turicum langsam bergab. So konnten Spuren von Zerstörungen durch Brände festgestellt werden. Auch die Thermen wurden zerstört, warum ist unklar. Sie fielen nicht einem Brand zum Opfer. Und der Niedergang der Siedlung begann schon vor den Einfällen der Alamannen in das Gebiet der heutigen Schweiz. Im 4. Jahrhundert zog sich die Bevölkerung langsam in das in diesen Krisenzeiten gebaute Kastell auf dem Lindenhof zurück. Aus der Befestigung entwickelte sich später der Kern des mittelalterlichen Zürichs.

Der Grabstein des als Kleinkind verstorbenen Lucius Aelius Urbicus ist übrigens im Landesmuseum Zürich zu sehen. Eine Kopie befindet sich an der Pfalzgasse unterhalb des Lindenhofs.

Annina Wyss Schildknecht: Die mittel- und spätkaiserzeitliche Kleinstadt Zürich/Turicum. Eine Hafenstadt und Zollstation zwischen Alpen und Rheinprovinzen, 2020. Bezug: Verlagsshop auf www.fo-shop.ch.