Und plötzlich wird die Geschichte wichtig

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«Wenn du gefragt hättest, Lotta» handelt von einer jungen Musikerin, die sich auf die Spuren ihrer verstorbenen Grossmutter begibt. Die Zürcherin Barbara
Geiser legt mit ihrem Debütroman eine facettenreiche, historisch fundierte und sprachlich liebevolle Erzählung vor. Nicht der Tod ihrer Grossmutter, sondern ein einziger Satz auf deren Beerdigung bringt das Leben der Musikerin Lotta aus dem gewohnten Trott. Grossmutter Luise sei als junge Frau aus ihrer Heimat Gletschen verschwunden und nie mehr dorthin zurückgekehrt.
Luise in Gletschen aufgewachsen? Wohin verschwunden? Und wieso? Lotta realisiert in diesem Moment, dass sie eigentlich nichts weiss über ihre Grossmutter, über die Frau, bei der sie aufgewachsen ist und die alles daran gesetzt hat, dass Lotta eine erfolgreiche Musikerin wird. Von nun an gibt es in Lottas Leben nicht mehr nur ihr Cello; sie beginnt das Leben ihrer Grossmutter zu erforschen und damit auch in die Geschichte Gletschens einzutauchen – ein Ort, der viele Parallelen zu Grindelwald im Berner Oberland aufweist. Nachträglich lässt sich aber nicht alles rekon-struieren, auch zum Schluss von Lottas Nachforschungen bleiben einige Fragen offen. Autorin Barbara Geiser sagt: «So ist die Realität. Wenn jemand gestorben ist und man nicht mehr fragen kann, ist es nicht mehr möglich, alles zu wissen.» Manchmal könne man noch fragen, manchmal sei es zu spät, damit müsse man leben können, so die Zürcherin, die seit über zwanzig Jahren in Hottingen zu Hause ist.

Drei Frauen-Geschichten
Geisers Debütroman weist auf den ersten Blick einige Parallelen zur Autorin selbst auf: Die 48-Jährige, die heute eine eigene Agentur als Texterin, Lektorin und Schreibcoach im Zürcher Kreis 5 betreibt, war selbst Musikerin und hat Geschichte sowie Musikwissenschaft studiert. Ausserdem ist ihre eigene Grossmutter in Grindelwald aufgewachsen. Doch der Roman ist nicht autobiografisch, viel- mehr nutzt Geiser all diese Ressourcen, um eine vielschichtige Genera-
tionengeschichte zu erzählen.
Es ist einerseits die Geschichte von Lotta, die sich in ihrem Leben bisher ganz und gar der Musik verschrieben hat. Durch die Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte verändert sich auch ihr eigenes Leben auf unerwartete Art und Weise. Anderseits ist es die Geschichte von Lottas Grossmutter Luise, die 1912 in Gletschen geboren wurde und sich mit grosser Kraft gegen ihr scheinbares Schicksal stemmt. Als dritte Geschichte wird auch diejenige von Luises Mutter – und Lottas Urgrossmutter – Ida erzählt, einer Frau, die sich den Zwängen einer patriarchischen Gesellschaft beugen muss, später aber eine mutige Entscheidung trifft.
Geiser will mit der Erzählung dieser drei Geschichten der Verklärung und Verherrlichung von alten Zeiten entgegenwirken. «Schliesslich ist es noch nicht lange her, dass Menschen auch in der Schweiz ganz anders leben mussten, als wir es heute können», meint die Historikerin. So lässt sie ihre Leser in die Geschichte der Schweiz eintauchen; in Zeiten, als Moralvorstellungen noch anders gelagert waren und Frauen noch nicht viel zu sagen hatten. Es waren auch Zeiten, in denen die fortschreitende Wissenschaft traditionelle Berufszweige gefährdete und Existenzen bedrohte, die Weltkriege und die Wirtschaftskrise den Menschen alles abforderten und sich Technik und Tourismus rasant entwickelten.

Uneindeutigkeit von Erinnerungen
Geiser springt zwischen den Jahrhunderten hin und her, mit kurzen Rückblenden fügt sie immer wieder ein Puzzlestück aus der Vergangenheit hinzu. Gleichzeitig erfährt Lotta durch ihre Nachforschungen stets weitere Details aus dem Leben ihrer Grossmutter. Zwar fragt sie sich nach einem Drittel der etwas mehr als 300 Seiten, ob sie je zufrieden sein würde mit dem, was sie herausfindet. Es sei, als entdecke sie immer nur «Mittelstücke und keines vom Rand des Bildes». Doch schliesslich merkt auch sie, dass es eher darum geht, in ihrem Bild der Grossmutter verschiedene Schattierungen zu entdecken, als ein Puzzle zu komplettieren. Immer wieder spielt die Autorin nämlich mit der Vielschichtigkeit von Erinnerungen und den unterschiedlichen Wahrnehmungen von Geschehnissen und Personen. So ist Luise in Lottas Erinnerung eine ganz andere Person als in den Erzählungen ihrer beiden Töchter, und weitere Weggefährten fügen dem Bild ihrer Grossmutter nochmals eine neue, bisher ungekannte Facette hinzu. Für Barbara Geiser ist genau dies Realität. «Menschen nehmen andere Menschen ganz unterschiedlich wahr und erzählen verschiedene Dinge weiter», sagt sie.
Sehr nahe, aber nicht immer exakt bei der Realität bleibt sie auch bezüglich der historischen Gegebenheiten. «Mir ist wichtig, dass es wahr sein könnte, aber nicht, dass es exakt stimmt», erklärt die Historikerin. So sei zentral, dass Dinge wie der Umgang mit Kindern oder gewisse Entwicklungsstufen, wie zum Beispiel das Vorhandensein von Strom, historisch stimmig sind, nicht aber, dass die Ereignisse exakt datiert werden.
Das Hin- und Herspringen zwischen den Zeiten kennzeichnet Geiser durch einen Perspektivenwechsel von Lotta zu Luise oder Ida sowie mit unterschiedlicher Sprachverwendung. Einschübe in «Grindelwald-Dytsch» versetzen den Leser in den Rückblenden auch sprachlich in das frühe 20. Jahrhundert.

Urchige Dialekteinschübe
Die urchigen und oftmals hart klingenden Ausdrücke des höchstalemannischen Dialekts sind ein gelungenes Stilmittel und zeigen auch die Verbundenheit der Autorin mit dem Ort im Berner Oberland. Geiser bezeichnet es als «Respekt gegenüber dem Dialekt», dass sie ihn geografisch verortet und einführend die Parallelen von Gletschen zu Grindelwald offenlegt. Währenddessen bleibt die Stadt, wo die junge Musikerin Lotta lebt, rein fiktiv. Ein weiteres wertvolles Stilmittel sind die syntaxfreien, aneinandergereihten Satzfragmente, die ein fortwährendes Gedankenkarussell in Lottas Kopf widerspiegeln. Beide Stilmittel gestalten die Lektüre abwechslungsreich und sind ein Zeugnis für den gekonnten und lustvollen Sprachgebrauch der Autorin. Auf ihre Beziehung zur Sprache angesprochen, sagt Geiser, sie betrachte diese als einen immensen Schatz, den man nie fertig erkundet habe. So ist es eine Freude, dass sie dank ihrem Debütroman ein grösseres Publikum an ihren Erkundungen teilhaben lässt – schliesslich beendet man die Lektüre in der Hoffnung, dass der erste Roman nicht der letzte war. Annina Just

Barbara Geiser: Wenn du gefragt hättest, Lotta. Edition Bücherlese, 315 Seiten. Die Autorin liest im September im Rahmen von «Zürich liest» in der Buchhandlung am Hottingerplatz aus ihrem Debütroman.