Vor 25 Jahren schloss die Stadt Zürich die offene Drogenszene im Letten. Deshalb organisierte der Quartierverein Unterstrass eine Führung mit dem Vorstandsmitglied Nicola Behrens vom Stadtarchiv Zürich zu den wichtigsten Schauplätzen. Bei einigen Teilnehmenden kamen viele Erinnerungen hoch.
Auf dem Weg ins Büro musste ich über die ausgemergelten Gestalten steigen, die am Boden lagen», erzählte ein Teilnehmer. «Sie waren überall, in den Gärten und Hinterhöfen», ergänzt eine Untersträsslerin. «Am Boden lagen die Spritzen herum.» Die meisten der 37 Teilnehmenden an der Führung mit Nicola Behrens vom Stadtarchiv Zürich leben schon lange in Unterstrass und bekamen die Auswirkungen der Drogenszene hautnah zu spüren.
Anfänge an der Riviera
Der Rundgang begann im Platzspitz, der später den Namen «Needle Park» bekam. Dort erzählte Behrens vom Zürcher Drogenproblem, das an der «Riviera» beim Bellevue mit den Hippies seinen Anfang nahm. Die erste Droge, die in Zürich auftauchte, war Cannabis, das in früheren Jahrhunderten Bestandteil der Volksmedizin war. «Grosse Verdienste um die Erweiterung des Drogenangebots hat sich der Chemiker Felix Hoffmann erworben», sagte Nicola Behrens ironisch. Er stellte im Bayer-Stammwerk in Deutschland 1893 den Wirkstoff Diacetylmorphin her. Daraus entwickelte Bayer das Heroin und pries es als nicht süchtig machendes Schmerz- und Hustenmittel an. Erst 1931 entfernte Bayer Heroin aus seiner Produktpalette, aber es sollte noch weitere 40 Jahre dauern, bis es verboten wurde.
Polizei rüstet auf
In Zürich hat die Stadtpolizei erstmals anfangs der Siebzigerjahre Heroin konfisziert, wenig später tauchte auch Kokain auf. Der Bund verschärfte 1975 das Betäubungsmittelgesetz von 1951, das Handel und Konsum von Drogen unter Strafe stell te. Man hoffte damals, das aufkeimende Drogenproblem mit Polizeigewalt in den Griff zu bekommen, und rüstete die Betäubungsmittelgruppe 1976 von 3 auf 15 Personen auf. Ziel war, den Süchtigen das Leben zu erschweren und sie so zum Ausstieg zu bewegen. Doch es begann ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Drögelern, Dealern und der Polizei. Kaum wurde bei einer Razzia eine Szene aufgelöst, bildete sich an einem anderen Ort eine neue.
Das Autonome Jugendzentrum
Anfangs Juni 1980 wurde über die Renovation des Opernhauses im Betrag von 60 Millionen Franken abgestimmt. Die Abstimmung löste im Mai 1980 eine Jugendbewegung mit Krawall und Demonstrationen aus, weil die Jugendlichen noch immer auf ein schon lange gefordertes Jugendhaus warteten. So wurde im Juni 1980 das Autonome Jugendzentrum (AJZ) eröffnet. Bereits im September wurde es nach einer Razzia geschlossen, um 1981 erneut geöffnet zu werden. Junkies hatten sich inzwischen zu einer «Arbeitsgruppe Drogen» organisiert und forderten einen Fixerraum mit der Begründung, die Konsumenten hätten damit mehr Kontrolle über das Drogenangebot. Die Medien berichteten ausführlich über das AJZ, was zur Folge hatte, dass nicht nur Drögeler aus der ganzen Schweiz, sondern auch aus dem Ausland nach Zürich kamen, weil man hier problemlos Drogen kaufen konnte. Die Belastung der Arbeitsgruppen im AJZ wurde dadurch immer grösser , sodass sie im Frühling das Experiment aufgaben und der Stadt die Schlüssel für die Liegenschaft zurückgaben, welche kurz darauf das AJZ 1982 abgebrochen hat.
Nun bildeten sich wieder überall in der Stadt Szenen, die für die Anwohnenden nur schwer zu ertragen waren. Der Tod war überall vor Augen, Beizen mussten geschlossen und öffentliche Toiletten verriegelt werden. Mitte der 1980er-Jahre kam zum Drogenproblem noch das HIV-Virus dazu. Da es für Drogenkonsumierende nicht einfach war, an Spritzen zu kommen, tauschten sie diese aus. So verbreiteten sich Krankheiten wie Aids und Hepatitis rasch. Die Fixer litten unter eitrigen Abszessen und das Elend wurde immer grösser.
1985 verbot jedoch Kantonsarzt Gonzague Kistler die Abgabe sauberer Spritzen, weil dies eine Beihilfe zum Drogenkonsum sei. Ärzte wie André Seidenberg bekämpften dies energisch. Der politische Druck wurde so stark, dass der Kanton das Spritzenabgabeverbot schon nach einem Jahr zurücknehmen musste. Als sich die Drogenszenen ab 1986 im Platzspitz sammelte, war die Stadt fast erleichtert, denn hier wurden keine Anwohner gestört und man konnte alles einfacher kontrollieren. Leider berichtete die Presse intensiv von dieser Drogenszene, sodass man nun allenorts wusste, wo in Zürich Drogen zu haben waren.
Zahlreiche Hilfsprojekte
1987 verabschiedete der Stadtrat verschiedene Massnahmen zur Drogenhilfe, und die bisherige Dreisäulenpolitik mit Therapie, Repression und Prävention wurde ergänzt mit zahlreichen Hilfsprojekten des Roten Kreuzes, der Sozialwerke Pfarrer Siebers und vieler mehr. 1988 wurde das Zürcher Aids-Interventions-Pilotprojekt Zipp-Aids gegründet. Im Platzspitz gab es nun erste medizinische Hilfe, und es wurden im Jahr zwischen 1,5 und 3,3 Millionen sterile Spritzen und Nadeln abgegeben.
Dennoch sorgte das Drogenelend im Platzspitz auf der ganzen Welt für Schlagzeilen, und im Oktober 1991 gestand der Stadtrat ein, dass seine Drogenpolitik gescheitert war. Am 13. Januar 1992 wurden der Platzspitz und der Shop Ville über Nacht geräumt und verriegelt. Das ganze Erdreich im Park musste danach wegen der vielen Spritzen, Kot und Unrat abgetragen und ersetzt werden.
Anstelle der Spritzenabgabe im Platzspitz wurden am Neumühlequai ein Spritzenbus und in den Quartieren Spritzenautomaten aufgestellt. Darauf liessen sich die Drogensüchtigen und Dealer mehrheitlich im Kreis 5 nieder. Nicola Behrens las den Anwesenden verschiedene Zeitungsartikel vor, in denen von ausgemergelten Gestalten und katastrophalen Zuständen die Rede ist. Im Herbst 1992 verschob sich die Drogenszene auf das frühere Bahnareal im Letten. Wurde der Handel früher von Dealern aus Albanien beherrscht, übernahmen hier libanesische und palästinensische Händler das Zepter.
Die Angst ging um
Und es ging immer brutaler zu und her. Im Kampf um die Kunden wurde gemordet, die Zahl der Drogensüchtigen und Drogentoten stieg beständig. Die Polizei wurde massiv bedroht. «In Unterstrass ging die Angst um, die Strassen waren leergefegt», erzählte Maria Gnädinger, damals Mitglied in den Vorständen des Quartier- und Gewerbevereins Unterstrass. Die Stadt war hilflos und wurde alleine gelassen, denn der Bund gab die politischen Rahmenbedingungen vor. «Der damalige Stadtpräsident Josef Estermann ersuchte ein ganzes Jahr lang vergeblich bei Bundesrat Cotti um einen Gesprächstermin», erzählte Nicola Behrens. Im Letten wuchs die Drogenszene massiv an. Über 1000 Personen hielten sich zu den Hauptfrequenzzeiten gleichzeitig hier auf. Sie lebten im Müll und Dreck, viele von ihnen waren obdachlos. Im Sommer 1994 wurde eine Projektorganisation «Aktuelle Drogenprobleme Zürich» geschaffen, die die Zusammenarbeit zwischen Stadt, Kanton und Bund koordinieren sollte. Im Hinblick auf eine Schliessung des Letten wurde ein provisorisches Ausschaffungsgefängnis auf dem Kasernenareal errichtet. Ziel war, nur die süchtigen Stadtbewohner zu behalten und alle anderen in ihre Heimatgemeinden auszuschaffen, damit diese selber Hilfsprojekte aufbauen.
1992 genehmigte der Bund einen Versuch zur ärztlich kontrollierten Abgabe von Heroin. Nach der Schliessung des Letten am 15. Februar 1995 besserte sich die Situation im Quartier massiv. Die lokale Drogenszene wurde in die Abgabeprogramme integriert. «Durch die ärztlich kontrollierte Drogenabgabe hat sich der Zustand der Süchtigen gebessert und die Beschaffungskriminalität fiel weitgehend weg», so Behrens. «Die Drogenproblematik ist zwar nicht beseitigt, aber von 419 Todesfällen 1992 sanken sie bis heute stabil auf unter 200 Fälle pro Jahr.» In der Schweiz befanden sich 2019 rund 18 000 Personen in einer Substitutionstherapie mit Methadon oder Buprenorphin und 1600 mit pharmazeutisch hergestelltem Heroin.