Von der «Psychohygiene» zum Buch

Erstellt von Lisa Maire |
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Der gebürtige Aargauer Rainer Bressler ist seit seiner Gymizeit in Zürich zu Hause. Hier findet er den Stoff, von dem seine unerschütterliche Schreiblust lebt. Ein Besuch in Witikon bei einem pensionierten Juristen, der schon als Kind gerne geschrieben hat.

Kunst und Literatur seien schon im ­Elternhaus an der Tagesordnung gewesen, sagt Rainer Bressler. Dass sie auch in seinem Leben wichtig sind, offenbart sich beim ersten Schritt in sein Zuhause am Rand von Witikon: Wohin das Auge blickt, trifft es auf Kunst und sich türmende ­Bücherstapel. Auch Theater, Film, Oper haben einen festen Platz im Alltag von Bressler und seiner Lebenspartnerin ­Dorothee Gattiker. Nicht zu vergessen: die grosse Begeisterung für Graffitis und Street Art. Ihm gefalle das «Nichtzurechtgestutzte» daran, sagt der jung gebliebene 76-Jährige, der unlängst auch den Rapper Milchmaa für sich entdeckt hat.

Zehn Rappen pro Seite

«Eine Vorliebe für alles Kreative» hegte Bressler schon als Kind. «Dafür hatte ich praktisch nie einen Tschuttiball unter den Füssen», berichtet er. Doch ganz ohne Zurechtstutzen ging die eigene kreative Entwicklung nicht vonstatten. Sein Vater, ein sprachgewandter Psychiater, fand die Schulaufsätze des Sprösslings schlecht. Mit einem Trick brachte er ihn dazu, das Schreiben zu verbessern: «Er bezahlte mir zehn Rappen pro abgelieferte Seite», lacht Bressler. Er selbst fand Gefallen an den Schreibübungen, verfasste schon bald freiwillig erste Kurzgeschichten. Später während des Jus-Studiums waren es auch Theaterstücke, für die sich allerdings niemand interessierte. Beachtung fanden hingegen seine Hörspiele. In den 80er- und 90er-Jahren liefen sie auf Radio DRS.

«Es ist seit jeher der Alltag, der mich zum Schreiben inspiriert», sagt Bressler. Mitsamt den sozialen und gesellschaftlichen Fragen, die sich bei seinen Beobachtungen von Menschen, ihren Stärken, Schwächen, Beziehungen auftun. In den 28 Jahren als juristischer Sekretär beim Bezirksrat im Bereich Vormundschaft und Soziales war er auch beruflich mit solchen Fragen konfrontiert. Ehrenamtlich engagiert er sich zudem seit vielen Jahren bei den Sozialwerken von Pfarrer Sieber, seit der Pensionierung auch beim Schreibdienst der städtischen Sozialzen­tren. Menschen bei ihren Gängen durch die Ämter zu unterstützen, Briefe, Anträge, Beschwerden für sie zu formulieren, sei das eine, so Bressler. Das andere, wichtigere, sei die menschliche Dimension – das Gespräch, das Zuhören. Die schwierigen Lebensgeschichten, die er dabei erfährt, gehen ihm nahe. Andererseits, so betont er, habe er immer wieder auch «hochspannende, engagierte, positiv denkende Menschen» kennen gelernt.

Über eigenen Tellerrand hinaus

Soziales Engagement liegt Bressler am Herzen, weil er es für wichtig hält – besonders nach der Pensionierung – immer wieder über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, sich auch mit Menschen ausserhalb des Kreises, in dem man sonst verkehrt, auseinanderzusetzen. Und ja, so bestätigt er: Manchmal fliessen solche Begegnungen und Erlebnisse – stark anonymisiert – auch in seine Bücher mit ein. Neben vielen weiteren Vorkommnissen aus dem erlebten Zürcher Alltag. Ob ­Intrigen auf Ämtern, sexuelle Übergriffe alter Männer, Kunst im öffentlichen Raum oder Klimademos: In Bresslers bisher vier Romanen und Krimis geht es ­immer auch um gesellschaftskritische Reflexionen, um das Hinterfragen von ­Autoritäten. Unterhaltsamer Klatsch & Tratsch, gewürzt mit einer zünftigen Prise Ironie, die manchmal in die fantastisch-überhöhte Satire abdriftet: So fasst der Schriftsteller seine Fiktionen zusammen. Zum Stilmittel Satire greift er deshalb gerne, «weil Klagen und Jammern mir nicht liegt». Ganz ohne Satire kommt Bresslers «Opus magnum» aus: Ein über 2000 Seiten starker und in fünf Bände gegliederter Versuch, Licht ins Dunkel der eigenen komplexen Familiengeschichte zu bringen. Bressler: «Als mein Vater 1995 starb, wusste ich nicht viel mehr, als dass er in Nazi-Deutschland rassisch verfolgt worden war». Und weil der jüdische Vater – der 1937 in die Schweiz emigrierte und später eine Schweizerin heiratete – nicht über die Verfolgung redete, erfuhr der Sohn auch nichts von den Holo-
caust-Opfern in der eigenen nahen Verwandtschaft.

Familiengeheimnis gelüftet

Umso mehr staunte Bressler über die ­vielen aufschlussreichen Familiendokumente, die er im Nachlass des Vaters entdeckte. Darunter das Tagebuch einer Urgrosstante und über 200 Briefe aus der privaten, väterlichen Korrespondenz. Die Familiengeschichte aufzuarbeiten und die Dokumente – zusammen mit eigenen Texten – in eine collageartige Buchform zu bringen, nahm Jahre in Anspruch. 2016 war das Projekt «Spurensuche» abgeschlossen. Letztes Jahr dann schickte Bressler noch den biografischen Roman «Schattenkämpfe» hinterher – ein Porträt seines Vaters, in dem er auch seine eigene Kindheit und Jugend als Psychiatersohn in Königsfelden thematisiert. Die Familie wohnte, wie das damals Pflicht war für das ärztliche Personal, auf dem Areal der Psychiatrischen Klinik.

Gedanken aus dem Arm

Er selbst, so zieht Bressler Bilanz, sei also nicht nur geprägt von einem Familien­geheimnis. «Ich bin in der Irrenanstalt aufgewachsen. Das prägt ebenfalls.» Was schwer nach selbstironischer Koketterie klingt. Etwas Wahnsinnigeres als schriftstellerischer Ehrgeiz und, damit verbunden, eine gewisse verlegerische Umtriebigkeit offenbart sich beim Gespräch am Witiker Stubentisch jedenfalls nicht. Im Schwung des wohlwollenden Echos auf seine «Schattenkämpfe» hat Bressler letztes Jahr auch seine früheren Romane und Krimis überarbeitet und neu herausgegeben. Dazu kamen zusätzliche Kurzgeschichten, Reiseberichte und anderes mehr, das er aus der Manuskripte-Schublade holte. «Marketingmässig war dieser Schwall nicht gerade optimal», lacht der überzeugte Selbstverleger.

Auch wenn zurzeit gerade kein neues Buchprojekt ansteht: Seine Schreib­routine behält Bressler bei: Seit fast 30 Jahren füllt er, mit eiserner Disziplin, jeden Morgen mindestens eine Seite. «Eine Art von Psychohygiene» nennt er dieses Schreibritual mit dem Füllfederhalter, bei dem es darum geht, herumwuselnde ­Gedanken einzufangen. Nein, Schreib­blockaden gebe es dabei keine, versichert er. «Die Gedanken schreiben sich einfach so – aus dem Arm.» Irgendwann wird daraus wieder eine Buchidee entstehen.