Was «frau» beim Streiten über die Menschen lernt

Erstellt von Isabella Seemann |
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Wenn zwei sich streiten, vermittelt sie: Rosmarie Reinert-Müller (59) ist seit sechs Jahren Friedensrichterin in Küsnacht und wurde im vergangenen März als Parteilose für eine weitere Amtsperiode bis 2027 gewählt.

Rosmarie Reinert-Müller, wie steht es um den Frieden in Küsnacht?

Man spürt die Pandemie. Während der Corona-Krise hatte ich sehr viele extreme Bagatellfälle. Die Klage einer Klägerin wies einen Streitwert von 32 Franken auf. Ihre Unkosten waren um ein Vielfaches höher. Es ist schwieriger, eine Einigung zu erlangen, die Menschen sind ungeduldiger und unverträglicher als üblich. Und dann haben sie auch noch mehr Zeit ­übrig. Gleichwohl konnte ich im Corona-­Jahr 65 Prozent aller Fälle schlichten, ungefähr gleich viel wie sonst, nur war es mit grösserem Aufwand verbunden.

Worüber streiten die Küsnachter?

Über dasselbe wie überall, also zumeist über Geld, aber hier gehäuft auch über Bäume, welche die Sicht auf den Zürichsee versperren, und überhängende Äste, also klassische Nachbarschaftsstreitig­keiten. Einmal forderte eine Frau, dass die Nachbarin weiter unten einen Ahornbaum fälle, weil er ihr die Sicht versperre. Bei der Ortsbesichtigung stellte ich fest, dass sie eine fantastische Sicht über den See hat und besagtes «Corpus delicti» vor viel höheren Tannen steht. Hätte man den Baum gefällt, sähe sie nur ein paar blaue Tupfer mehr durch die Tannen. Bei ersten Anfragen versuche ich darauf hinzuwirken, dass man das Gespräch miteinander sucht. Aber wenn die Parteien schliesslich zu mir kommen, ist die Situation oft schon völlig «verkachelt». Denn meist geht es nicht nur um diesen Ast.

Sind die Streitigkeiten an der Goldküste ausgeprägter als anderswo oder sind die Menschen hier versöhnlicher?

Weder noch, es wird überall gleich viel gestritten. Allenfalls können sehr reiche Leute einem Nachbarschaftsstreit eher aus dem Weg gehen, weil sie mehr Land rundherum zur Verfügung haben. Es sind eher charakterliche oder psychologische Eigenschaften, die zu Streitigkeiten, Rechthabereien und Unversöhnlichkeit führen. Manche Leute wirken regelrecht verhärmt. Weil es ihnen nicht gut geht, und führen sie Kriege auf Nebenschauplätzen.

Sind Frauen streitsüchtiger oder harmoniebedürftiger als Männer?

Auch diesbezüglich ist es eher eine Charakterfrage als eine Geschlechterfrage. Viele Beklagte fühlen sich als Angeklagte, aber das sind sie nicht, Friedensrichter fällen keine Strafurteile. Ich sorge nur dafür, dass die beiden Parteien miteinander verhandeln können. Und ich schaue manchmal, wer in der Verhandlung der Schwächere ist, und sorge dafür, dass dieser nicht unter die Räder kommt. Es ist meine Aufgabe, nach Möglichkeit so lange dran zu bleiben, bis die Parteien Schritt für Schritt eine Einigung erzielen.

Was empfinden Sie, wenn es Ihnen gelungen ist, zwei Menschen zu versöhnen?

Das ist für mich sehr befriedigend und auch das Schönste an meiner Arbeit, vor allem bei Fällen, die zu Beginn aussichtslos erscheinen. Selbst wenn beide Parteien grummelnd rausgehen, weil jeder Kompromisse machte, ist auch bei ihnen die Erleichterung jeweils gross, wenn sie eine Einigung erzielten, denn es hat oft beide Seiten viel Zeit und Energie ge­kostet.

Reisen wir mal kurz in Ihre Kindheit: Was hat Sie geprägt, dass Sie zu dem geworden sind, was Sie sind?

Ich bin mit einem älteren und einem jüngeren Bruder im Wartau im Sanktgaller Rheintal aufgewachsen. Unsere Eltern besassen ein Kleidergeschäft, es war für uns eine Selbstverständlichkeit, dass unsere Mutter arbeitete, aber im Dorf war das ungewöhnlich.  Meine Eltern haben uns Kinder gleich behandelt und gefördert. Ich hatte zwar wenig Selbstbewusstsein, aber man wächst mit seinen Aufgaben und gewinnt dadurch an Selbstvertrauen. Als eine der wenigen aus dem Dorf schaffte ich es aufs Gymnasium, wo die Lehrerinnen für mich positive weibliche Vorbilder waren. Danach entschied ich mich, Jus zu studieren, weil ich dachte, damit kann mich niemand über den Tisch ziehen. Schliesslich doktorierte ich und es zog mich ans Gericht, wo ich als nebenamtliche Ersatzrichterin tätig bin, als solche auch an grossen Verfahren wie der Klärschlammaffäre mitwirken konnte.

Vor 50 Jahren erhielten die Schweizer­innen das Wahl- und Stimmrecht. Welche Rolle spielen das Recht und die Rechtsprechung bei der Gleichberechtigung?

Es ist von fundamentaler Wichtigkeit. Zuvor war der Mann das Oberhaupt der Familie und Frauen durften ohne Einwilligung des Mannes nicht mal ein Bankkonto eröffnen oder Verträge alleine unterschreiben. Eine grosse Etappe war das modernisierte Familienrecht. Bei der Gleichberechtigung von Mann und Frau besteht noch weiter Verbesserungsbedarf, zum Beispiel beim Sozialversicherungs- und beim Steuerrecht. Aktuell läutet in einer Serie von bemerkenswerten Leiturteilen das Bundesgericht eine neue Ära im Familienrecht ein. Geschiedene Frauen müssen ihren Lebensunterhalt nun grundsätzlich selbst verdienen. Wie viel Gleichstellung in diesen Urteilen wirklich drin ist, ist wieder eine andere Frage. Denn die Rahmenbedingungen verbessern sich mit dieser Rechtsprechung ja nicht automatisch. Frauen verdienen weniger als Männer, selbst frisch ab Ausbildung, Frauen arbeiten wegen der Familie öfter Teilzeit oder steigen zeitweise ganz aus und haben dann in der Arbeitswelt schlechte Karten. Man muss aufpassen, dass man nicht übers Ziel hinausschiesst.

In der Zwischenzeit studieren weitaus mehr Frauen als Männer Recht. Ist die Justiz eine gerechtere Sphäre?

Nein, das lässt sich so nicht sagen. Es fangen zwar mehr Frauen als Männer am Gericht oder in Anwaltskanzleien an, aber nur wenige kommen auch oben an. Im Staatsdienst ist die Vertretung von Frauen bedeutend besser als in den Kanzleien. Gerade auch in den grossen, internationalen werden noch viel weniger Frauen Partner. Am Fachlichen liegt es nicht. Mein Eindruck ist, dass an Frauen bezüglich Belastbarkeit höhere Anforderungen gestellt werden, da man ihnen weniger zutraut. Geht es hart auf hart, wird absolute Verfügbarkeit verlangt, bei der es auch mal weder Feierabend noch Wochenende gibt. Andererseits sind viele Frauen zu einem solchen Commitment nicht bereit und verzichten oft zugunsten ihres Privatlebens.

Braucht es eine Quote für Frauen?

Nein, Quoten helfen nicht gegen Diskriminierung und sie sind zu wenig flexibel. Ich befürworte durchmischte Teams, aber zu einem bestimmten Moment braucht es die richtige Person und nicht auf Biegen und Brechen ein bestimmtes Geschlecht.

Wenn Sie sich zum 50-Jahr-Jubiläum ­etwas wünschen dürften – was wäre das?

Es ist für Frauen sehr wichtig, dass sie sich gut ausbilden und selbstständig bleiben, auch in einer Ehe. Wir sind noch nicht dort, wo wir hin müssen. Gendersternchen helfen uns auch nicht, dahinzukommen. Es braucht vielmehr eine kulturelle Veränderung in den Köpfen und eine ­höhere gesellschaftliche Akzeptanz, alle ­Lebensmodelle – seien es Vollzeitmütter, Teilzeitväter oder voll arbeitende Mütter – als gleichwertig zu betrachten. ­