Dölf Wild war 24 Jahre lang Leiter der Stadtarchäologie Zürich. In diesem Jahr wurde er pensioniert. Der gebürtige Schaffhauser blickt zufrieden auf sein Berufsleben zurück.
Dölf Wild, ganz grundsätzlich: Was begeistert Sie an der Archäologie?
Im Wesentlichen sind es zwei Dinge: Einerseits ist es schon eine Art von Schatzsuche. Man kann jederzeit auf etwas Überraschendes stossen. Andererseits ist es spannend, die Stadtgeschichte Zürichs kontinuierlich weiterzuentwickeln.
Die Archäologie prägte Ihr Berufsleben. Gilt das auch für Ihr Privatleben?
Selbstverständlich. Also Grabungen, wie im Beruf, ging ich in meiner Freizeit eher nicht anschauen, aber natürlich geht mein Interesse an Archäologie über den Beruf hinaus. Wenn ich in die Ferien gehe, besuche ich gerne Altstädte, Burgen oder Kirchen. Ich lese auch viel historische Bücher. Trotzdem möchte ich betonen, dass ich nicht nur in die Vergangenheit blicke. Ich bin sehr gegenwartsbezogen. Ich kann gerade so gut an einer Klimademo dabei sein.
Zu Ihrem Berufsleben: Wie sind Sie zur Archäologie gekommen?
In meiner Primarschulzeit entdeckte ich mein Interesse für Geschichte. Als Jugendlicher machte ich aber eine Lehre als Maschinenzeichner. Nach Lehrabschluss wusste ich, dass das nichts für mich ist. Den Einstieg in die Archäologie konnte ich dank einer Ausgrabung in Schleitheim, Schaffhausen, machen. Da habe ich als einfacher Karrettenschieber mitgeholfen. Danach ging ich nach Zürich, um die Matur nachzuholen. Gleichzeitig habe ich bei weiteren Ausgrabungen mithelfen können. So bin ich quasi nach dem Motto «learning by doing» in die Archäologie reingerutscht.
Nach Abschluss der Erwachsenenmatur haben Sie aber Geschichte studiert.
Das hat damit zu tun, dass ich damals noch nicht auf die Archäologie abzielte. Eigentlich wollte ich Medizin oder Jura studieren. Denn ich wollte etwas «Richtiges» studieren, mit dem man die Welt verändern kann. Aus meinem alten Interesse heraus habe ich mich für ein Semester Geschichte eingeschrieben. In dieser Zwischenzeit konnte ich dank meiner vorherigen Ausgrabungserfahrungen eine grosse Ausgrabung leiten. Am Zürcher Weinplatz haben wir römische Bäder gefunden. Während dieser Arbeiten habe ich mit einem Arbeitskollegen die Grabungsfirma Interessengemeinschaft Archäologie (IGA) gegründet. Und so kam es dann halt, dass ich die Arbeit in der Archäologie immer spannender fand und dort geblieben bin.
Gibt es weitere Gründe, wieso Sie von der Archäologie nicht mehr losgekommen sind?
Ich habe ja erwähnt, dass ich in jungen Jahren etwas «Richtiges» studieren wollte, mit dem ich die Welt ein Stück verbessern kann. Diese wichtige Bedeutung, die mein Beruf haben sollte, habe ich in der Archäologie gefunden. Als Leiter der Stadtarchäologie war ich beim Amt für Städtebau angestellt. Darin sind Archäologie, Denkmalpflege und Städteplanung unter einem Dach zusammengeführt. Die Idee dahinter ist die Planung der Zukunft der Stadt mit Blick in die Vergangenheit. Das Motto des Amts für Städtebau war lange: «aus der Geschichte heraus Stadt entwickeln». Dadurch wird die Archäologie in einen politischen Kontext gerückt. Ferner habe ich gemerkt, dass es die Leute und die Medien interessiert, was wir machen.
Hat sich die Arbeitsweise mit den Jahren verändert?
Ja, das hat sie. Vor allem der interne Verwaltungsaufwand hat zugenommen. Auch auf den Baustellen stieg der Druck. Zudem arbeitet die Archäologie heute wissenschaftlicher als früher. Es wird heute viel mehr und exakter dokumentiert. Darüber hinaus sind die Untersuchungsmethoden ausgereifter als früher.
Als Leiter der Stadtarchäologie waren Sie dann weniger an der Front als zu Beginn Ihrer Karriere.
Ja, das ist so. Meine Hände wurden mit der Zeit weniger dreckig. Vor Ort wie die Hilfsausgräber war ich nicht mehr. Insofern an der Front war ich, indem ich Verhandlungen mit Bauherren führte und Überzeugungsarbeit leisten musste. Auch intern musste ich mit den Mitarbeitern kommunizieren. Bei einer Grabung muss man gezielt Ausschau halten. Es braucht immer Fragestellungen, an denen man sich orientiert. Es ist nicht effizient, ohne Fragen drauflos zu buddeln.
Da gab es sicher auch Schwierigkeiten.
Ja, teilweise schon. Es gab schon Bauherren, die bewusst an uns vorbeigingen und etwas abgebrochen haben, was wir hätten untersuchen sollen. Die Archäologie will keinen Bau verhindern. Ziel ist immer, dass man in Kooperation das Bauvorhaben umsetzen kann und gleichzeitig die historischen Befunde erhalten bleiben.
Und wenn sich jemand querstellt?
In der Regel funktioniert die Überzeugungsarbeit, indem wir erklären, welche Bedeutung hinter einem Gebäude steckt und was wir mit dem Bau planen. Theoretisch kann die Archäologie im Extremfall zusammen mit den Baubehörden den Bau einstellen. Aber auf solche Drohungen möchten wir eigentlich verzichten.
Können Sie erklären, wieso die Archäologie für Zürich wichtig ist?
Es gibt in Zürich viele neue Quartiere, die sich optisch ähneln und böse ausgedrückt austauschbar sind. Geht man in die Altstadt, zeigt sich ein Zürich mit einem einzigartigen Gesicht. Dieses Gesicht ist Produkt aus früheren Zeiten, Menschen, Krisen und politischen Entscheiden. Diese vielen Geschichten, die dahinterstecken, prägen die Identität der Stadt. Die Archäologie versteht ihre Arbeit als Teil der Denkmalpflege.
Was würden Sie jemandem sagen, der die Notwendigkeit Ihrer Arbeit nicht anerkennt?
Die einen finden unsere Arbeit gut und die anderen eben nicht. Schlussendlich entscheidet sich auch irgendwo die Gesellschaft, ob es wert ist, historisches Kulturgut zu erhalten. Schon in den 1950ern gab es in der Debatte, ob man die Altstadt abreissen sollte, eine deutliche Mehrheit für ihren Erhalt. Das ist heute sicher nicht anders. Ausserdem sind gerade mal 5 Prozent der gesamten Stadtzürcher Bausubstanz von vor 1850. Das ist ein geringer Anteil, da bleibt woanders doch genug Platz für das Neue übrig.
Was für eine Bedeutung hat Archäologie für Sie persönlich?
Sie prägte fast mein gesamtes Berufsleben. Ich habe viel Energie dort investiert und bin froh, dass ich nun zurückblicken und sagen kann, dass mir diese Arbeit Freude bereitet hat.
Welche Projekte waren für Sie besonders spannend?
Sicher gehört für mich die Entdeckung dazu, dass Zürich keine römische Gründung war, sondern eine keltische Siedlung vorher schon hier bestanden hat. Ein anderes schönes Projekt war für mich die Rekonstruktion des Frauenklosters im Selnau. Sein Standort und Aussehen war bis zu den Grabungsarbeiten im Jahr 2004 kaum bekannt. Zudem beschäftigt mich seit fast 20 Jahren eine Wandmalerei einer Wohnung an der Brunngasse in der Altstadt, die im Jahr 1330 nachweislich von Juden in Auftrag gegeben wurde. Nur wenige Jahre danach wurden sie bei Judenverfolgungen in Zürich umgebracht. Diese Entdeckung ist weltweit einmalig. Ich habe vor kurzem ein Mail eines israelischen Journalisten erhalten, der mich für seinen Artikel um Bildmaterial gebeten hat. Solches kam schon häufig vor.
Wie fühlt es sich an, etwas Einzigartiges herauszufinden und Reaktionen zu erhalten?
Das ist natürlich etwas sehr Schönes. Im erwähnten Fall der jüdischen Wandmalereien können wir nun diese Wohnung in ein kleines Museum umfunktionieren. Mit dem Wissen um die Bedeutung dieser Malerei konnte ich die Stadt überzeugen, die Wohnung nicht mehr neu zu vermieten. Dieses Projekt wird mich weit über die Pensionierung hinaus beschäftigen.
Ganz ziehen Sie sich also nicht zurück. Gibt es sonstige Arbeiten, denen Sie nun nachgehen?
Ich habe mich selbstständig gemacht. Dadurch kann ich Aufträge von der Stadt und anderen Auftraggebern entgegennehmen. Aus meiner Zeit bei der Stadtarchäologie laufen einzelne Projekte weiter. Neben der Malerei an der Brunngasse arbeite ich für die Stadt bei der Auswertung der Grabungen auf dem Münsterhof und im Fraumünsterquartier mit. Daraus wird sicher eine Publikation entstehen.
Im Gespräch mit dem «Altstadt-Kurier» haben Sie beschrieben, dass Stadtarchäologie wie ein Riesenpuzzle sei und mit jedem Gebäudeumbau oder Aufreissen einer Strasse ein neues Puzzleteil dazukommen könne.
Ja, das ist so. Das ist ein Grundprinzip bei der Stadtarchäologie.
Wie geht man damit um, dass man es wohl nie vervollständigen kann?
(Schmunzelt.) Das ist wohl in der Wissenschaft immer so. Mit jeder beantworteten Frage tauchen fünf weitere auf. Man lernt, damit zu leben. Bei uns ist überdies die beste archäologische Grabung diejenige, die man nicht macht. Wo wir sagen können, dass wir das Gebiet geschützt haben. Das ist manchmal hart, da wir unter Umständen wissen, dass dort etwas Spannendes wäre. Darauf müssen wir oftmals verzichten.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Beim Lindenhof ist das immer wieder der Fall. Dort oben gäbe es noch viel zu entdecken, doch wir halten uns zurück. Wir machen nur Notgrabungen in Gebieten, wo etwas zerstört werden würde.
Ursprünglich kommen Sie aus dem Kanton Schaffhausen. Werden Sie Ihren Kindheitsort in Zukunft ebenso genau unter die Lupe nehmen?
Es ist nicht auszuschliessen. Schaffhausen ist ein sehr schöner Kanton. Ich sehe ihn einfach mit anderen Augen. Diesen Röntgenblick in vergangene Zeiten, den ich habe, wenn ich die Strassen Zürichs entlanglaufe, habe ich in Schaffhausen nicht. Es würde mich daher schon reizen, in Schaffhausen Forschungen zu betreiben. Die Archäologie ist gut vernetzt. Ich habe auch Kontakt mit dortigen Archäologen.
Sie fühlen sich mit Zürich verbunden, wie es scheint.
Ja, immerhin habe ich zwei Drittel meines Lebens hier verbracht. Zürich ist eine wunderschöne Stadt mit einer hohen Lebensqualität. Sie ist meine Heimat geworden.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Stadtarchäologie?
Dass ihre Arbeit weiterhin geschätzt wird und von der Stadt weiterhin Ressourcen bekommt. Für die Stadt Zürich wünsche ich, dass die archäologischen Fenster auf ein höheres Niveau gestellt werden. Wir haben so viele Museen, aber Zürich hat kein richtiges Stadtmuseum. Es bräuchte eine Institution, die die Stadtgeschichte unter die Leute bringt. Ich hätte auch den idealen Ort dafür: das Globus-Provisorium beim Hauptbahnhof. Bis heute wird darüber diskutiert, wie man es vernünftig nutzen könnte. Das wäre der ideale Ort, an dem man sich in einer Art Stadtforum über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Stadt auseinandersetzen könnte.
Das wäre sicher ein Projekt, in das Sie Energie investieren würden.
Ja, auf jeden Fall. (Dennis Baumann)