Weihnächtliche Streifzüge oder Frau Fisch auf Betteltour
Sie war gar nicht beliebt im Altersheim, die Frau Fisch. Sie war einer dieser Menschen, die einem einfach unsympathisch sind. Vielleicht zu Unrecht, ein ganzes Leben lang. Kein Wunder, dass die alte Frau schrullig und unnahbar geworden war. Selten redete jemand mit ihr, und wenn Frau Fisch selber sprach, so tat sie es mit ein paar Katzen, die jeden Abend ums Heim schlichen und von der alten Frau gefüttert wurden. Die wenigen Franken, die ihr für den Lebensabend blieben, ein bescheidenes Taschengeld vom Sozialamt, gab sie für Katzenfutter aus. Die Pensionäre waren sich einig: Die Frau Fisch spinnt ein wenig. Mit der Zeit bekam sie den Übernamen «die Katze». Trotz ihrer 81 Jahre war die Frau aber von einer erstaunlichen Vitalität. Weil sie spürte, dass man sie nicht sonderlich mochte, war sie die meiste Zeit ausser Haus. Mit ihrem schwarzen, abgenutzten Lodenmantel, einem alten schäbigen Rucksack am Rücken und den langen wirren Haaren fiel sie natürlich auf. Die Kinder fragten verstohlen: «Mami, ist das eine Hexe?» Am Abend sass die alte Frau meistens auf der Bank im nahe gelegenen Park und sprach mit ihren geliebten Katzen.
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Auch der Heimleiter mochte Frau Fisch nicht, und schon mehrmals waren sie sich in die Haare geraten wegen der Katzen, die um das Haus schlichen. «Ich werde dafür sorgen, dass Ihnen das Taschengeld gestrichen wird, wenn Sie es nur für Katzenfutter ausgeben! Diese Sauerei ...» Aber dann tat ihm Frau Fisch wieder leid, denn die Katzen schienen wirklich ihre einzige Freude zu sein. Doch in der Weihnachtszeit passierte Erstaunliches mit Frau Fisch. An manch kaltem Winterabend miauten die Katzen vergeblich vor dem Altersheim und mussten bis spätnachts auf ihr Fressen warten. Schon am frühen Nachmittag marschierte Frau Fisch zielstrebig aus dem Altersheim und kam erst spät in der Nacht zurück. «Wo treibt sich die Fisch wohl die ganze Nacht herum?», tuschelten ein paar beim Abendessen, als die alte Frau nicht an ihrem Platz sass.
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Frau Fisch hatte nur ein Ziel: Sie wollte alle Samichlaus- und Weihnachtsfeiern in der Umgebung besuchen. Vor allem die, an denen es etwas zu essen gab und — das war noch viel wichtiger — wo sie auch ein Geschenk bekam. Die alte Frau wusste genau, welche Feier wann und wo stattfand: Caritas, Heilsarmee, Pfarrgemeinden, aber auch private Organisationen. Schaumbad, Christstollen, Ovomaltine, Hautcrème, Kalender, Kugelschreiber, Wollhandschuhe, Vitamingetränke, Kleinkram und Knabbereien füllten anschliessend ihren Rucksack. Ärgerlich wurde Frau Fisch nur, wenn sich zwei lohnende Weihnachtsfeiern überschnitten. Dass sie bei den meisten bis zum Schluss ausharren und sich all die schönen Worte und feierlichen Gesänge anhören musste, ärgerte sie zwar, aber daran gab es nichts zu rütteln. Nur wer bis zum Schluss blieb, durfte ein Geschenk in Empfang nehmen. Dort aber, wo es sich lohnte – und das wusste Frau Fisch genau –, stand sie gleich mehrmals an. Sie versteckte das erste Paket sofort im Rucksack, zog blitzschnell ihren roten Plastikregenmantel über und stellte sich nochmals in die Reihe. Meistens funktionierte der Trick, und Frau Fisch freute sich diebisch.
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Noch lieber platzte sie am Samstagmorgen an der noblen Bahnhofstrasse in die elegantesten Parfumerien und fragte die Verkäuferinnen nach Gratismüsterli. «Aber bitte keine Nivea-Crème, lieber ein herziges Parfumfläschli.» War es die Unverfrorenheit der alten Frau oder Mitleid? Die Betteltour funktionierte meistens. Und zögerte eine der jungen Verkäuferinnen einmal, doppelte Frau Fisch nach: «Auch Sie werden älter, hübsches Fräulein, und alte Leute möchten wenigstens in der Weihnachtszeit auch einmal fein duften.» Dieser Satz sass und schlug sich meistens in ein paar Fläschchen und Döschen nieder.
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So kam es, dass Frau Fisch an manchem Abend todmüde, aber mit vollgepacktem Rucksack in den Bus stieg und die letzten Meter zum Altersheim beinahe mit geschlossenen Augen zurücklegte. Obwohl sie versuchte, unbemerkt ins Haus zu kommen, gelang ihr das nicht immer. Doch egal, wie spät es war, ihre Katzen vergass sie nie, was ihr immer wieder harte Worte des Heimleiters eintrug. Anderseits machte sich dieser auch Sorgen um sie, und als er vom Zimmermädchen erfuhr, dass Frau Fischs Zimmer voll sei mit gehamsterter und zusammengebettelter Ware, beschloss er, sie zur Rede zu stellen. Gleich nach der Feier am Heiligen Abend wollte er es tun. Doch Frau Fisch erschien nicht.
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Es war längst mäuschenstill im Altersheim, als der Heimleiter seinen letzten Rundgang durchs Haus antrat. Überall war es finster, nur bei Frau Fisch sah er Licht unter der Tür durchschimmern, und es war ihm, als hörte er leise Weihnachtsmusik. «Da hat sie wieder einmal das Radio vergessen und ist eingeschlafen», dachte er und öffnete leise die Tür. Da sass sie, den Kopf auf der Brust, und schlief. Das Zimmer war übersät mit Papierschnipseln, es glich einem kleinen Warenlager, und ganze Reihen Schaumbad- und Parfummüsterchen standen auf dem Tisch. Erst auf den zweiten Blick entdeckte er die Weihnachtspäckchen auf dem Boden, jedes mit einem Namensschild versehen: Emma Blum, Karl Moser, Franz Meier. Der Heimleiter kannte die Namen. Es waren alles Pensionäre, die auf fremde Hilfe angewiesen waren, im Rollstuhl sassen und kaum aus dem Haus kamen. Etwa zwanzig Päckchen waren fertig geworden, bevor Frau Fisch eingeschlafen war. Nachdenklich und ein wenig beschämt betrachtete er sie. Von nun an würde Frau Fisch für ihn mehr sein als eine schrullige Einzelgängerin. Leise ging er aus dem Zimmer, er wollte das Geheimnis der alten Frau wahren.
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Am Weihnachtsmorgen fanden alle Pensionäre ein Päckchen vor ihrer Tür und freuten sich riesig ob des unerwarteten Geschenks. Am meisten überrascht aber war Frau Fisch, als auch sie vor ihrer Tür einen wunderschönen Blumenstrauss und ein Paket fand. Noch grösser wurden ihre Augen, als sie es öffnete ... Es war ein kleiner Rucksack, gefüllt mit Katzenfutter!