Die Multioptionsgesellschaft bedeute einen Rückschritt und sei eine Gefahr, ist Simon Ingold überzeugt. Vor allem die sozialen Medien führten zu Entscheidungsschwächen, findet der 38-jährige Ökonom.
Simon M. Ingold ist HSG-Absolvent und arbeitet als Finanzspezialist in der Chemiebranche. Er sieht so aus, wie man sich einen typischen Manager vorstellt. Nach hinten gegelte Haare, gut sitzender Anzug, darunter wohl ein durchtrainierter Körper, überdurchschnittliche Grösse. Aber auch ein freundliches Lächeln und interessierte Augen. Simon Ingold hat kürzlich in einem umfassenden «NZZ»-Artikel eine gut 25 Jahre alte These von Soziologie-Professor Peter Gross wieder aufgenommen. Die Multioptionsgesellschaft. Ingold zieht ein Vierteljahrhundert später eine scharfsinnige erste Bilanz. Das Thema hat, auch durch die Potenzierung via Social Media, eine früher nie für möglich gehaltene Gesellschaftsbrisanz erhalten. Darum hat der Organisator David Guggenbühl Simon Ingold zum Turmgespräch im St. Peter eingeladen.
Die 300 Reichsten der Schweiz
«Ich lasse mich nicht gerne festnageln, lieber bleibe ich multioptional, ich hinterfrage Entscheide», betont Ingold. Das ist die positive Seite der Multioptionsgesellschaft, die der 38-jährige Familienvater aber aus privilegierter Sicht (Herkunft, Ausbildung) zurate ziehen kann. Er ist aber auch sehr ehrlich, wenn er sagt: «Die Berichte über die 300 Reichsten der Schweiz bringen mich dazu, zu denken, was wäre, wenn …» Generell komme heute die Gesprächskultur zu kurz. Meinungsführer würden zu medialen Gestalten, die physisch nicht präsent seien. «Für mich ist das Gespräch sehr wichtig.» Social Media mit der unüberschaubaren Menge an Lebensentwürfen, mit der ganzen Hochglanzwelt sei das Gegenteil davon. «Man wird komplett handlungsunfähig», zieht Ingold ein klares Fazit. Man stehe immer weniger in der Gegenwart, es gebe einen absoluten Schwebezustand, wo wenig entstehe. Ingold: «Man kommt ins Denken und Grübeln, auch über sich selbst.» Die 1994 formulierte These über die Multioptionsgesellschaft sei bestätigt. «Der Soziologe Peter Gross hat die fundamentale Entwicklung antizipiert. Die Steigerung des Prozesses führt zur Überforderung und zur Stagnation der Entwicklung.» Für Ingold eines von vielen Beispielen: «Wir lassen uns sehr leicht blenden, in unserer Konsumgesellschaft ist alles bestellbar, alles kommt zu mir.» Social Media befeuert diesen Status. So aber kämen grosse Entscheidungen zu kurz, eine persönliche Neuerfindung wird suggeriert, die aber nicht stimme. «Vier Wochen Yogaferien und dann bereit für ein neues Leben? Das ist eine Illusion.» Dabei würden auch Firmen bei der Personalauswahl mit Lippenbekenntnissen arbeiten. «Wenn irgendetwas im Lebenslauf nicht stimmt – zack, raus.» Die Personal-Abteilungen gingen keine Risiken ein.
Ingold, der einige Jahre in den USA gelebt hat, findet, dass das dortige System durchaus positive Aspekte habe. «Der Unternehmergeist ist grösser, man kann immer wieder aufstehen, ein Konkurs ist weniger schlimm.»
«Social Media nicht verteufeln»
Sind Facebook, Instagram und Snapchat wirklich so schlimm und gesellschaftsverändernd? Werbefachmann Oliver Burger sieht die Entwicklung positiver. «Man soll Social Media nicht verteufeln. Es finden nicht weniger Gespräche statt, es hat Platz für beides.» Seine Kinder seien viel im Netz, seien aber trotzdem viel mit Freunden zusammen. Doch Simon Ingold bleibt dabei: «Der Zustand ist nicht produktiv.» Ein Weg raus aus der «Handyfixierung» sei die Selbstbeschränkung. «Social Media kostet Zeit und ist, zumindest bei mir, eine Art von Narzissmus», offenbart Ingold. Doch der ständige Vergleich führe zu Depressionen und Angstzuständen, so sagen es zumindest Untersuchungen. Die anwesenden Vertreter der angesprochenen jungen Generation, Ye Rim (16) und Duncan Guggenbühl (24), können die Folgerungen von Ingold nur bedingt unterstützen. Ye Rim: «Ich kenne niemanden in meinem Umfeld mit Depressionen, ich kann mit Leuten kommunizieren, die ich sonst nie kennen gelernt hätte.» Duncan Guggenbühl bekennt, dass er enorm viel kommuniziere via Social Media. Aber: «Ich kenne viele Freunde, die das Handy bewusst weglegen oder in den Flugmodus schalten.» Etwas, was Simon Ingold begrüsst. «Eine Einschränkung ist wichtig. Man muss filtern, weil man nicht alles verarbeiten kann.» Zudem nehme die Aufmerksamkeitsspanne des Menschen laufend ab.
Für Kunsthistoriker Ueli Gerster ist der Grundkonflikt bei Entscheidungen freilich nicht neu. Schon seit etwa 400 Jahren sei ein Bewusstsein für Entscheidungen vorhanden. Vorher hätten Entscheidungen ein viel kleineres Gewicht gehabt. Für Ariane Ackermann, Sozialdiakonin des Kirchkreises 1, ist klar, dass die damals grassierende Pest dazu geführt habe, dass das Bewusstsein für die eigene Endlichkeit starker geworden sei. Ihre Folgerung: «Das Bedürfnis für viele Lebensoptionen ist dadurch gestiegen.» Ingold findet diese Folgerung interessant. «Das könnte uns zu denken geben, es würde aber für eine Endzeitstimmung stehen.» Ueli «Hansdampf», wie er sich selber nennt, relativiert die Diskussion damit, dass das Thema von Optionen für einen Slumbewohner in der 3. Welt nicht gelte. «Diese Menschen haben nach wie vor keine Option.» (ls.)