Wenn viel Fachwissen verloren geht

Erstellt von Pia Meier |
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Im Gemeinderat zu sein, wird immer arbeitsintensiver. Mangels Vereinbarkeit mit Familie und Beruf sind viele Gemeinderäte und Gemeinderätinnen vorzeitig zurückgetreten oder sie kandidieren im Februar nicht mehr. Lösungen wären bessere Entlöhnungen und eine Stellvertretungsregelung.

«Von den 125 amtierenden Zürcher ­Gemeinderätinnen und Gemeinderäten waren nur 60 vor vier Jahren schon dabei.» Diese Schlagzeile stammt aus dem Jahr 2018. Auch in der Legislatur 2018 bis 2022 ist eine grössere Anzahl, das heisst 45 Gemeinderätinnen und Gemeinderäte, vorzeitig zurückgetreten. Zudem treten 15 Gemeinderätinnen und Gemeinderäte am 13. Februar nicht mehr für weitere vier Jahre an.

Begründet werden die vorzeitigen Rücktritte von den Fraktionspräsidenten wie folgt: Beginn einer neuen Ausbildung/Weiterbildung, Jobwechsel, Familiengründung und damit verbundene ­Betreuungspflichten, Wegzug aus der Stadt Zürich oder Wahl in ein anderes Amt. Unter den 45 frühzeitig zurück­getretenen Gemeinderätinnen und ­Gemeinderäten sind 10 Personen von der SP, 10 von der SVP, 9 von der FDP, 7 von den Grünen, 5 von der AL und 4 von der GLP. Ein Gemeinderat bleibt gemäss Tätigkeits­bericht für das Amtsjahr 2020/2021 durchschnittlich 6,8 Jahre im Amt. Einige der vor­zeitig zurückgetretenen Gemeinderätinnen und Gemeinderäte ­waren aber mehr als 10 Jahre dabei. Spitzen­reiterin bei ununterbrochener Tätigkeit ist Gabriele Kisker von den Grünen, die 14 Jahre und 11 Monate im Amt war. Urs Egger (FDP), Claudia Simon (FDP) und Thomas Schwendener (SVP) traten nach 13 Jahren zurück, wobei Letzterer schon vorher zwei Jahre im Amt war.

Alle Parteien sind sich einig, dass durch die vorzeitigen Rücktritte viel Fachwissen verloren geht. Nicht immer rutschte gleich die nachfolgende Person auf der Liste nach, wenn jemand zurücktrat. Die SP musste gar einmal nachnominieren. Die Gründe sind gemäss Davy Graf, Fraktionspräsident der SP, dieselben wie bei den vorzeitigen Rücktritten.

Was auffällt, ist, dass von den 15 Personen, die im Februar nicht mehr antreten, 10 von der SP sind. Auch hier hat es aber einige langjährige Gemeinderats-Mit­glieder darunter wie Marcel Savarioud (SP), der 24 Jahre im Amt war, und Mark Richli (SP), der 20 Jahre dabei war. Dies im Gegensatz zum Beispiel zu Olivia Romanelli (AL), die nur drei Jahre im Rat war.

Häufig bis 22 Uhr statt bis 20 Uhr

Ein grosser Teil der Rücktritte hat einen direkten Zusammenhang mit der Unvereinbarkeit zwischen Mandat und Familie beziehungsweise Aus- und Weiter­bildung. Davon ist Gemeinderats­präsident Mischa Schiwow (AL) überzeugt. Gemeinderatssitzungen dauern nicht mehr wie früher von 17 bis 20 Uhr, sondern häufig bis 22 oder 23 Uhr. Viele Kommissionen kommen zudem aufgrund mehr Weisungen etc. nicht mehr zweiwöchentlich, sondern wöchentlich zusammen. Im Amtsjahr 2020/2021 tagte der ­Gemeinderat rund 200 Stunden. Dieser Wert entspricht in ununterbrochener ­Sitzungszeit 8,3 Tagen. Die Sitzungszeit fällt damit im Vergleich zu den früheren Amtsjahren deutlich höher aus, wie dem Tätigkeitsbericht für das Amtsjahr 2020/2021 zu entnehmen ist.

Kommissionsarbeit kommt dazu

Einige umfangreiche Geschäfte wie kommunaler Richtplan, Totalrevision der ­Gemeindeordnung und der Geschäftsordnung des Gemeinderats sowie der ­Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission prägten das Amtsjahr. Ein grosser Teil der Arbeit für den Gemeinderat wird aber in den Kommissionen geleistet. Im Amtsjahr 2020/2021 tagten die Kommissionen insgesamt 874 Stunden, was 36,4 Tagen ununterbrochener Sitzung entspricht. Damit liegt die Sitzungszeit der Kommissionen in ­diesem Amtsjahr auf dem höchsten Stand seit Erhebungsbeginn. Allgemein ist die Anzahl von neu eingereichten Geschäften und der dem Gemeinderat überwiesenen Weisungen höher als in den Vorjahren.

«Relativ schlecht entschädigt»

Um das Mandat mit der notwendigen Sorgfalt, sprich Vorbereitung, ausführen zu können, muss gemäss Schiwow mit einem Arbeitsaufwand von 20 bis 30 Prozent gerechnet werden. Die Taggelder in der Höhe von rund 13 000 Franken jährlich wiegen aber in vielen Fällen den Lohnausfall bei einer Reduktion der ­Erwerbsarbeit nicht auf. «In unserem Miliz­system ist die Tätigkeit als Gemeinde­rätin oder Gemeinderat relativ schlecht entschädigt», hält Schiwow fest.

Er befürwortet das Milizsystem, ist aber dezidiert der Ansicht, dass ähnlich wie beim Kantonsrat ein neues Entschädigungsreglement eingeführt werden müsste, welches nicht nur auf Sitzungsgeldern beruht, sondern auch auf einem Fixbetrag. Eine höhere Entschädigung könne dabei helfen, die Vereinbarkeit von Beruf, politischem Engagement und ­Familie zu fördern, fanden auch andere linke Parteien. Eine kleine Entschädigung könnte zudem dazu führen, dass künftig nur noch Privilegierte ein politisches Amt ausüben werden.

Weiter könnte so die Fluktuation im Gemeinderat gesenkt werden. «Niemand kann mit dem Aufwand 100 Prozent ­Erwerbsarbeit leisten», betont Schiwow. «Viele reduzieren deshalb ihre Erwerbsarbeit. Die Entschädigung ersetzt aber Lohnausfälle nicht.» Zum anderen sei er dafür, dass es mehr Stellvertretungen ­geben soll, zum Beispiel für einen Mutterschaftsurlaub oder eine berufliche Un­vereinbarkeit mit dem Mandat. Für die Stellvertretungsregelung braucht es aber eine Gesetzesänderung auf kantonaler Ebene.