Wieder einmal am Marronistand Schlange stehen

Erstellt von Dorijan Minci |
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JULL-SERIE «WUNSCHORTE», TEIL 5

Heidi, 94 Jahre alt, möchte gerne wieder einmal vor einem Marronistand stehen und mit einem Verkäufer plaudern. Stadtbeobachter Dorijan Minci, 22 Jahre alt, stellte sich für sie am Paradeplatz und am Bellevue in die Schlange.

Marini, Maruni, Maroni. Die chaufed mer immer bim Toni. Es ist Winter und die Marronisaison findet wieder statt. Die Marronipfannen werden mitten in der Kälte erhitzt, der Marronimann sortiert die frischen Marroni aus Italien in seinem Häuschen, ich stehe im warmen Mantel, mit Schal um den Hals und Mütze auf dem Kopf davor.

Marini, Maruni, Maroni. Sinds ächt scho parat oder nonid? Ich öffne eine kleine Tüte. Einige Marroni sind verbrannt und nicht mehr essbar. Ich schäle eine, die knackig ist. Jeder Knacks ist deutlich zu hören, je mehr ich sie schäle. Ich entsorge die Schalenstücke in der Extratüte, die an jener mit den heissen Marroni befestigt ist, und beisse in die Maronifrucht. Aua, die Marroni ist zu heiss für meinen Mund. Ich schluck schnell den Bissen hinunter, atmete tief ein und aus und nehme einen Schluck aus meiner Wasserflasche. Vom Geschmack her sind die Marroni super, aber ich sollte mir ruhig mehr Zeit nehmen, wenn ich sie esse.

Auch wenn wir uns im neuen Abnormalen befinden, die meisten Geschäfte für die Freizeitaktivitäten geschlossen sind: Auf die Marronistände, die in der ganzen Stadt verteilt sind, können wir uns verlassen. Sie sorgen trotz Corona für die passende Winterstimmung. Viele der Marronistände verkaufen in diesem Winter auch Glühwein. Im Dezember und Januar sehe ich Menschen, die sich abends nach ihrer Arbeit vor einen Stand stellen, um Marroni und Glühwein zu bestellen und anschliessend mit Freunden weiterzuspazieren. Einige führen kleine Konversationen mit den Standbesitzern über die aktuelle Lage.

«Stört dich die Kälte nicht?», fragt etwa ein Familienvater, während er mit seiner Frau und Tochter vor dem Stand auf seine Marroni wartet. «Hab meine Pfannen und Heizung hier. Habs so warm wie bei mir zu Hause», antwortet der Marronistandbesitzer am Paradeplatz, «ich bin sogar jetzt lieber hier als daheim. Ich habe Arbeit, bin unter Menschen, verdiene mein Geld und muss nicht die verdammte Kälte ertragen!» Der Besitzer lacht ein wenig. Er sieht nach den Pfannen, während er mit seinem Kunden weiterredet.

Während ich in der Schlange stehe und gleichzeitig meine Maske anziehe, höre ich, wie verschiedene Menschen die unterschiedlichsten Sprachen sprechen. Einige von ihnen reden Deutsch in ihren Heimatdialekten, Französisch, Englisch, Italienisch, Serbokroatisch, Spanisch oder Albanisch. Der Stand zieht Menschen aus verschiedenen ­Kulturen an. Marini, Maruni, Maroni, jetzt hani mis Pack und jetzt gohni. Man kann sagen, dass die Stände ein wenig Normalität in unsere aktuelle Lebens­situation bringen. Marini, Maruni, Ma-mmmmhh ...

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*Die Stadtbeobachterinnen und -beobachter aus dem Jungen Literaturlabor JULL berichten für jene, die (weiter) zu Hause bleiben müssen, von «Wunschorten». Möchten Sie eine(n) der jungen Schreibenden an Ihren «Wunschort» schicken? Wir freuen uns über Vorschläge direkt per E-Mail an office@jull.ch oder lorenz.steinmann@lokalinfo.ch