Wieder einmal an die Langstrasse

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Jull-Serie «Wunschorte» Teil 3:

Franz, 74, aus Zürich, war schon lange nicht mehr an der Langstrasse. Stadtbeobachter Caruã Nogueira dos Santos, 21, nimmt ihn mit auf die Reise.

Nebel wie Honig aus Waben der Dämmerung. Haltestelle Limmatplatz. Still trittst du aus dem Tram, in ein Leben, das der schweizerischen Gepflogenheit so gar nicht ähnlich ist.
Ohne Unterbruch läufst du durch die Unterführung. Gleise rattern. Hier drinnen sind die Wände besprüht, voll von Tapeten mit politischem Aufruf. Dann ist dein Blick wieder frei: links das «Kosmos», rechts die «Schickeria», geradeaus des
fetten Tonys Zapfanlagen. Du fragst den Zerlumpten an der Ampel, wofür denn die Bordsteine noch gut sind, wenn niemand darauf geht und sie nur feiern und sich die Strasse zurückerobern. Er lacht nur und so folgst du seinem Ratschlag.
Läufst die Strasse hinauf. Passierst das Rothaus. Hörst das Stimmengewirr aus Shisha-Bars brabbeln. Sie prosten sich zu. Diese jungen Leute. Nehmen dich an der Hand, ziehen dich in einen gelben Laden. Dann ziehen sie dich in einen blauen Laden. Pakistaner hinter den Kassen. Oder Osmanen. Du weisst es nicht, willst niemanden beurteilen. Sie kaufen dir ein Gebäck. Sie nennen es Baklava. Es ist süss, cremig und knusprig zugleich, Pistazien daraufgestreuselt.
So gehst du nach draussen und merkst, dass du an der Piazza Cella stehst. Im Longstreet ist seit jeher ein Fest. Und auf der anderen Seite macht’s Lambada, Lambada.
Doch erst musst du dir die Hände waschen. Wirst ganz freudig. Sagst dir entschlossen: Auch wenn es nur dieser dumpfe Bass von da drüben ist, der deine Lungen berührt, und auch wenn es nur der hesche Kick eines Schluckes ist, der dich vorantreibt, egal, sei’s drum!
Eigenartig.
Wieder wirst du eingeladen. Diesmal auf Nudelsuppe in einem weissen Block mit vielen Zimmern und vielen Briefkästen, die nur mit Nummern beschriftet sind.
Wie das schmeckt!
Du bestehst darauf zu zahlen. Und sie lassen dich zahlen. Wirken ganz überrascht, als du aufstehst, während sie sich für etwas richten wollen.
Eigenartig.
An der Kreuzung zur Hohlstrasse siehst du den Coop. Obsthändler prüfen die Waren der Lieferanten. Hier ist ja auch das Kreisbüro, erinnerst du dich? Hier warst du vor Jahren, dich für die erste Wohnung melden. Und in deinen Erinnerungen fragst du dich noch was anderes: Hat auch damals der gekaute Gummi so zahlreich auf den Pflastern geklebt?
Hat man auch damals Flaschen auf den Boden geprellt, und das Glas wurde zu Rohrzucker? Und die Flaggen und die plastischen Farben? Wird das Rotlicht hier zu Buntlicht?
Bald erreichst du den Helvetiaplatz. Blickst zurück. Steigst gedankenlos ins 8i-Tram. Es fährt dich in Richtung Selnau.
Du hörst zwei Frauen murmeln. Darüber, wie sich an der Langstrasse die Kulturen und Klassen ertragen. Als erhole sich in Zürich seit jeher der Weltfrieden. Und auf die Antwort der einen – das sei doch klar, das sei doch logisch!, wieso sie immer an die Langstrasse gingen, weil man hier an einem einzigen Abend nämlich alles erleben kann – widersprichst du laut, wehrst du dich, kehrst du den ihrigen Satz um.
Ha! Als ob das so isch! A eim Abig!
Die Frauen blicken dich an, halten dich für verrückt. Schmunzelnd lehnst du dich an die Scheibe und geniesst das Erwachen der Stadt.

Caruã Nogueira dos Santos*

* Die Stadtbeobachter und Stadtbeobachterinnen aus dem Jungen Literaturlabor JULL berichten für jene, die (weiter) zu Hause bleiben müssen, von «Wunschorten». Möchten Sie eine der jungen Schreibenden an Ihren «Wunschort» schicken? Wir freuen uns über Vorschläge an office@jull.ch oder an lorenz.steinmann@lokalinfo.ch.